"Ich wusste nicht, ob ich das durchstehe"
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Bei der Demonstration am Ernst-August-Platz wird Jilan (Mitte, in Weiß) von ihren Gefühlen überwältigt.
© Quelle: Trammplatz: Jesiden demonstriere
Hannover. Äußerlich wirkt sie vollkommen unversehrt. Jilan* ist nicht entstellt wie manche der jesidischen Frauen, die im Irak in die Gefangenschaft des IS gerieten. Ihr Gesicht ist nicht zu einer Maske erstarrt wie das einer 16-jährigen Leidensgenossin, die sich aus Angst vor einer erneuten Vergewaltigung verunstalten wollte, mit Benzin übergoss, anzündete – und überlebte. Es ist nicht von Narben übersät wie das einer 18-Jährigen, die auf ihrer Flucht vor dem IS schwere Verbrennungen erlitt und das rechte Auge verlor, weil in ihrer Nähe eine Landmine explodierte.
Jilan dagegen, in ihrem eng anliegenden, modischen Kleid und dem dazu passenden, weißen Blazer, könnte eine ganz normale Studentin sein. Äußerlich unterscheidet die in Hannover lebende Jesidin nichts von anderen Jugendlichen, die an diesem Tag über den Ernst-August-Platz eilen. Dabei war sie noch vor zwei Jahren das, was Boulevardmedien eine „Sex-Sklavin“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“ nennen. Nachdem IS-Kämpfer sie am 3. August 2014 aus dem Sindschar-Gebirge im Nordirak verschleppt hatten, wurde die damals 22-Jährige an drei verschiedene Männer verkauft. Der Überfall auf ihr Dorf war Teil eines Großangriffs, bei dem Dschihadisten nach Schätzungen von Experten rund 7000 Jesiden töteten. 5000 Frauen wurden versklavt. Rund 1700 von ihnen gelang die Flucht.
Das sind Jesiden
Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, deren Wurzeln bis 2000 vor Christus zurückreichen. Sie nahm Glaubenselemente, Riten und Gebräuche westiranischer und altmesopotamischer Religionen sowie von Juden, Christen und Muslimen auf.
Die Jesiden sind Kurden und stammen aus dem Irak, Syrien, der Türkei und dem Iran. In vielen Herkunftsländern werden sie verfolgt. Fundamentalistischen Muslimen gelten sie als Kuffar, als Ungläubige, zum Teil werden sie als Teufelsanbeter verachtet. Das Massaker des IS an Jesiden 2014 stuft der UN-Menschenrechtsrat als Völkermord ein. Jeside wird man ausschließlich durch Geburt, beide Elternteile müssen zur Religion gehören. Niemand kann übertreten oder bekehrt werden. Bei Ehen mit Nicht-Jesiden verloren Gläubige früher ihre Religionszugehörigkeit.
In der jesidischen Kultur spielt der Begriff der Ehre eine zentrale Rolle. Von Ehrenmorden hat sich der Zentralrat der Jesiden immer wieder distanziert. Es gebe in der jesidischen Theologie keine Textstelle, die so ein Handeln legitimiere. Es gibt sie dennoch: In Hannover wurde im März 2016 eine 21-Jährige auf einer Hochzeitsfeier erschossen, weil sie sich einer Zwangsheirat verweigerte. Die Familie des mutmaßlichen Täters fühlte sich entehrt – und nahm Blutrache.
Jilan ist eine davon. Dass sie in Hannover lebt, hat sie einem außergewöhnlichen humanitären Projekt zu verdanken. Im Herbst 2015 nimmt das Land Niedersachsen 70 schwer traumatisierte Frauen und Kinder aus dem Nordirak auf: IS-Opfer, die von der Terrormiliz gefangen genommen und zum Teil als Sex-Sklavinnen gehalten worden sind. Niedersachsen beteiligt sich damit wie Schleswig-Holstein an einem vom Land Baden-Württemberg initiierten Sonderprogramm. Insgesamt 1100 von IS-Kämpfern misshandelte, jesidische Frauen werden mit seiner Hilfe nach Deutschland gebracht und hier therapiert. Die niedersächsischen Frauen sind in insgesamt sechs Kommunen unter erheblichen Sicherheitsvorkehrungen untergebracht. Für ihre Betreuung und Therapie rechnet das Land mit Kosten von insgesamt 7,9 Millionen Euro.
Jilan lebt seit einem Jahr mit Mutter und zwei Brüdern in Hannover an einem geheimen Ort. Die Behörden wollen sie vor Übergriffen von IS-Anhängern schützen. Aber sie will, dass die Welt vom Leid der jesidischen Frauen erfährt. Deshalb trifft sie sich in einem Café auf dem Bahnhofsvorplatz mit der HAZ. Jilan verständigt sich hauptsächlich auf Kurmandschi, einer Sprache der Kurden und Jesiden. Sie redet leise, meist gefasst. Wenn sie allerdings von den Männern erzählt, die sie quälten, gräbt sich Bitterkeit in ihr Gesicht. Verzweifelt wirkt sie, wenn sie über ihre kleine Schwester spricht.
Die beiden Mädchen werden gemeinsam verschleppt und zunächst zu zweit verkauft. Dann aber kommt einer, der nur Jilan will. „Ich habe ihn angefleht, auch meine Schwester zu nehmen“, erzählt die 24-Jährige leise. Er tut es nicht. Jilans Schwester befindet sich noch heute in den Fängen des IS. „Ich habe keine Ahnung, wo sie ist“, sagt Jilan: „Sie ist doch erst 16.“
Es ist 8 Uhr früh, als Dschihadisten Jilan im August 2014 nach Mossul verschleppen. Ein paar Tage verbringt die Jesidin eingepfercht in einer Halle zwischen mehr als 100 Gefangenen. Männer und Frauen seien getrennt, den Müttern seien die Söhne weggenommen worden, erzählt sie. Man weiß heute: Der IS bildet jesidische Jungen zu Kindersoldaten aus – und setzt sie gegen die eigenen Leute ein. Jilan wird mit den anderen Mädchen und Frauen nach Tal Afar gebracht. Für einige geht es dann weiter nach Rakka, Syrien, zum Verkauf auf dem Sklavenmarkt. „Ich war eine von ihnen, eine von etwa 50 Frauen“, sagt Jilan schlicht. Der bittere Zug um ihren Mund wird plötzlich ganz tief. Sie spricht bruchstückhaft, kaum verständlich weiter. Von 50 Männern ist die Rede, denen sie beim Verkauf alleine gegenübersteht, von Verhöhnungen, Schlägen. Tränen schießen ihr in die Augen. Sie stockt.
Wo kann man helfen?
Wer den jesidischen IS-Opfern in Niedersachsen helfen möchte, kann dies mit einer Spende beim Ethno-Medizinischen Zentrum tun: Ethno-Medizinisches Zentrum, Verwendungszweck: „Yezidenhilfe“, IBAN DE03 2505 0180 0900 3856 69, Sparkasse Hannover.
Im Pavillon, im Kleinen Saal, ist außerdem noch bis zum 6. November unter dem Titel „Bekes – Die verlorenen Seelen“ eine Fotoausstellung zweier jesidischer Fotografen zu sehen. Sie thematisiert ebenfalls Menschenrechtsverletzungen, Flucht und Vertreibung des jesidischen Volkes aus dem Irak.
In Mossul gebe es eine große Kinoanlage, in der Jesidinnen zusammengetrieben worden seien, erläutert der Traumatherapeut Jan Ilhan Kizilhan später. Der promovierte Psychologe und Orientalist ist Leiter des Studiengangs für Soziale Arbeit mit psychisch Kranken und Suchtkranken in Villingen-Schwenningen. Er hat das baden-württembergische Sonderprogramm koordiniert – und in Dohuk persönlich die Frauen ausgewählt, die nach Deutschland durften. Auch Jilan. In Tal Afar habe man Frauen unter anderem in einer großen Schule gefangen gehalten, berichtet er weiter. In Rakka werden sie in Turnhallen, teilweise sogar auf Marktplätzen versteigert. Nicht nur Männer aus Syrien wollen die Sex-Sklavinnen kaufen. Aus Saudi-Arabien, aus Ägypten reisen sie an. Die Frauen müssen für ihre potenziellen Käufer ihren Schleier lüften, ihren Körper, ihre Haare und Zähne begutachten lassen wie Vieh. Je nach Alter kosten sie zwischen 33 Euro und 134 Euro. Besonders begehrt sind Kizilhan zufolge blonde, blauäugige Jungfrauen. Für sie werden unter der Hand bis zu 10.000 Dollar bezahlt.
Wie so eine Versteigerung abläuft, hat Jilan kurz zuvor auf einer Bühne auf dem Ernst-August-Platz gespielt. Sie ist an diesem Tag nicht nur zum Interview gekommen, sondern nimmt auch an einer Aktion der Hilfsorganisation "Eziden Weltweit e.V." teil. Mit einem Theaterstück will der Verein auf das Leid der jesidischen Frauen aufmerksam machen. Jilan spielt eine von zwei Frauen auf dem Sklavenmarkt. Dabei ist sie komplett verschleiert, damit sie niemand erkennt.
Trotz einfachster Requisiten – die Waffe des IS-Händlers beispielsweise ist ein Spielzeugschwert – erreicht das Stück eine große Intensität. Kein Wunder: Darsteller wie Jilan müssen ihren Schmerz nicht spielen. Sie haben ihn selbst erlebt. Dass sie zunächst von einem IS-Kommandeur gekauft wurde, erzählt die 24-Jährige später im Café. Dann kommt ein muslimischer Kurde, der sie zu niedrigsten Arbeiten im Haushalt nötigt. Immerhin: Er rührt sie nicht an. Anders als der dritte Käufer, ein Syrer. Der ist verheiratet. Die Ehefrau weiß, dass er sich eine Sex-Sklavin hält. Er versucht nicht nur, sie zu zwingen, den Koran zu lesen. Er vergewaltigt sie auch. Jilan ist so verzweifelt, dass sie versucht, sich zu erhängen. Als das nicht funktioniert, schneidet sie sich die Pulsadern auf. Daraufhin bekommt sie Handschellen angelegt, damit sie sich nichts mehr antun kann.
Weil die Ehefrau ihres Peinigers sie irgendwann nicht mehr im Haus haben will, wird sie zu einer weiteren Familie gebracht. Irgendwann kann sie fliehen und wird von einer syrischen Familie versteckt. Bis der IS sie findet – und mit ihrem Onkel die Summe aushandelt, mit der er sie freikaufen kann.
Das Theaterstück auf dem Ernst-August-Platz rührt an solchen Erinnerungen. Nicht nur bei Jilan, sondern ganz offensichtlich bei vielen der Jesiden, die zum Zuschauen gekommen sind. Irgendwann bilden sie einen Halbkreis um die Bühne, der wie ein Schutzwall wirkt. Verweinte Gesichter überall. Eine andächtige Atmosphäre herrscht da plötzlich, mitten im Trubel auf dem Bahnhofsvorplatz. Außerhalb des Kreises jedoch bekommt von dem Schauspiel kaum jemand etwas mit. „Die Weltöffentlichkeit soll das Leid der jesidischen Frauen endlich zur Kenntnis nehmen“, ruft Mizkin Saka, Sprecherin von „Eziden Weltweit“. Doch die Weltöffentlichkeit zeigt sich desinteressiert. Es ist Sonnabend. Zeit zum Shoppen.
Jilan wirkt am Ende dennoch zufrieden. Dass sie zurzeit in Hannover intensiv Deutsch lernt, erzählt sie später. Dass sie auch Schreiben lernen muss, merkt man, als sie ihren Namen aufschreibt. Ganz langsam, unsicher, bedächtig tut die 24-Jährige das. Wie stellt sie sich ihre Zukunft vor? „Ich will weiter für die Sache der Jesidinnen kämpfen.“ Pause. „Ich wollte unbedingt mitspielen, aber ich wusste nicht, ob ich das durchstehe“, sagt sie plötzlich noch einmal zu ihrer Rolle in dem Theaterstück. Dann verschwindet sie in der Menge.
*Name von der Redaktion geändert
Interview: „Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe“
Der Traumatherapeut Jan Ilhan Kizilhan hat die Jesidinnen für das baden-württembergische Hilfsprojekt in Dohuk, Nordirak, ausgewählt und nach Deutschland geholt. Der 1966 geborene Psychologe ist an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen tätig.
Herr Kizilhan, warum richtet sich die Gewalt des IS so extrem gegen jesidische Frauen?
Der IS ist eine terroristische Organisation, die nach altertümlichen Prinzipien einen Gottesstaat errichten will. Alle Ungläubigen müssen gezwungen werden, zum Islam zu konvertieren. Sonst werden sie versklavt oder getötet. Die Jesiden sind aus der Sicht des IS Ungläubige, also werden die Männer ermordet. Die Frauen werden versklavt und dazu benutzt, die sexuellen Bedürfnisse der IS-Kämpfer zu befriedigen. Die Vergewaltigungen werden aber auch gezielt als Kriegswaffe eingesetzt, um das Volk der Jesiden zu demütigen.
Es soll sogar einen festgelegten Verhaltenskodex für den Umgang mit Sex-Sklavinnen geben.
Ja, es ist zum Beispiel erlaubt, eine Sklavin sofort nach dem Erwerb zu vergewaltigen. Der Akt der Vergewaltigung ist auch nichts Schlechtes aus Sicht des IS. Die Terrormiliz glaubt, dass die Frauen dadurch automatisch zu Musliminnen werden. Sie nennt solche Vergewaltigungen „Heirat“, um sie ihrer religiös-totalitären Ideologie anzupassen. Der IS legt für seine Krieger alles fest: Es gibt Regeln dafür, wie man die Frauen züchtigen darf, dafür, was passiert, wenn sie schwanger sind, Regeln, die bestimmen, welche sexuellen Praktiken erlaubt sind. Das ist typisch für eine totalitäre Ideologie, dass sie keine Privatsphäre kennt, dass sie alles bis ins Kleinste regelt: selbst den Umgang mit Sex-Sklavinnen.
Vergewaltigte jesidische IS-Opfer wurden, wenn sie fliehen konnten, oft auch von ihrer eigenen Dorfgemeinschaft verstoßen. Sie galten als unrein, beschmutzt. Manche Frauen brachten sich deshalb um.
Das stimmt so nicht mehr. Der Baba Sheik, das religiöse Oberhaupt der Jesiden, hat dieses Paradigma geändert. Er hat die Frauen, die in den Händen des „Islamischen Staates“ Gewalt erfahren, ausdrücklich gesegnet. Nicht die Opfer haben ihre Ehre verloren, sondern nur die Täter. Das ist eine große kulturelle Leistung, dass die Jesiden diesen Teil ihrer Religion geändert haben.
Die Frauen haben Unvorstellbares erlebt. Werden sie je wieder normal leben können?
Ihre Erlebnisse werden sie ein Leben lang begleiten. Unser Ziel ist es, dass sie mit Hilfe von Therapien lernen damit umzugehen – auch in Situationen wie jetzt, wo es die heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen um die Stadt Mossul gibt. Sie müssen begreifen, dass diese Ereignisse ein Teil ihres Lebens, aber nicht ihr ganzes Leben sind. Neben der individuellen gibt es auch kollektive Hilfe. Die Geschichte des jesidischen Volkes ist durch Genozide geprägt. Ihre Vorfahren haben gezeigt, dass man das überleben kann. Auch das gibt den Frauen Kraft.
Interview: Jutta Rinas