Pflegekammer Niedersachsen

Zwangsmitgliedschaft und hohe Beiträge: Pfleger ärgern sich über eigene Lobby

Die Pflegerinnen Hendriekje Blöß (links) und Jaqueline-Nana Nehrig glauben nicht an den Nutzen einer Pflegekammer.

Die Pflegerinnen Hendriekje Blöß (links) und Jaqueline-Nana Nehrig glauben nicht an den Nutzen einer Pflegekammer.

Hannover. Vor ein paar Tagen holte Jaqueline-Nana Nehrig, Krankenpflegerin im Friedrikenstift, ihre Examensurkunde hervor. Kein Dokument für jeden Tag, doch jetzt war es nützlich für politischen Protest. Sie kopierte die Urkunde, zog einen Strich quer über das Duplikat, um ihr Examen symbolisch ungültig zu machen und schrieb zusätzlich auf das Blatt: „Nein zur Pflegekammer“. Die Kopie schickte die 24-Jährige ans niedersächsische Sozialministerium, zu Händen Ministerin Carola Reimann. „Mal gucken, was das bringt“, sagt Nehrig, „wir Pflegekräfte wurden ja nicht einmal gefragt, ob wir eine Pflegekammer wollen.“

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So wie die Krankenpflegerin machten es etliche Männer und Frauen auf Stationen in Kliniken und Heimen. Sie unterstützten damit eine Protestaktion im Internet, deren Initiatoren fordern, den noch jungen Verband, der erst im August seine erste Präsidentin wählte, gleich wieder abzuschaffen. Fast 43.000 Menschen bekräftigten den Aufruf bislang per E-Mail, mehr als 38.000 von ihnen leben in Niedersachsen. Die Pflegekammer, von der Landesregierung per Gesetz ins Leben gerufen, um Zehntausenden Pflegekräften eine Lobby geben, sie steht bei einem Großteil der Beschäftigten massiv in der Kritik. Sie nehmen die Kammer nicht als Hüter ihrer Interessen wahr, sondern als neu geschaffenes bürokratisches Wesen, ohne Transparenz, mit unklaren Kompetenzen und womöglich sinnlos; eine Kammer, die Mitgliedschaft per Gesetz verlangen kann, eine Lobby, die fordert, statt um Mitglieder zu werben.

Wolfgang, 52, Pfleger mit zwei Jahrzehnten Berufserfahrung und beschäftigt in der MHH, sagt es so: „Ich möchte nicht gezwungen sein, irgendwo Mitglied zu sein und dafür noch frech hohe Beiträge zahlen. Das ist in einer Demokratie eigentlich unvorstellbar.“ Viele stören sich aber nicht allein am Beitrag, den Arbeitnehmer alleine zahlen müssen. Der Kammer ist es gelungen, viele Pflegekräften in kurzer Zeit zu enttäuschen. Plötzlich erfuhren Beschäftigte, dass Arbeitgeber ihre Daten an die Kammer weitergaben. Kurz vor Weihnachten kamen Briefe mit Beitragshöhen bis zu 280 Euro jährlich, mit Beispielen bis zu 70.000 Euro. Manche, täglich unterwegs im Schichtdienst, dachten, dass Leute, die glauben, man könne in der Pflege so viel Geld verdienen, wohl keine Ahnung von der Realität haben. Dass die Kammer angeblich mitteilte, man könne die Berufsbezeichnung widerrufen, sollten Pfleger nicht genügend Fortbildungspunkte sammeln, verschärfte den Eindruck, in der Geschäftsstelle in Hannover arbeiteten Bürokraten gegen eigene Leute.

Das ist die Pflegekammer Niedersachsen

Die Kammer soll die beruflichen Interessen von Altenpflegern, Gesundheits- und Krankenpflegern sowie Kinderkrankenpflegern vertreten. Rechtliche Grundlage für die Arbeit der Körperschaft öffentlichen Rechts ist das vom Landtag beschlossene niedersächsische Pflegekammergesetz, das seit dem 1. Januar 2017 gilt. Darin ist geregelt, dass Mitgliedschaft und Beiträge verpflichtend sind für alle Beschäftigten, die in dem Beruf arbeiten, ob in Krankenhäusern oder Pflegeheimen.

Vor der Verabschiedung des Gesetzes hatte das Institut infratest dimap im Auftrag des Sozialministeriums bei einer repräsentativen Umfrage mehrheitlich Zustimmung zur Kammergründung ermittelt: Von 1039 in Pflegeberufen Beschäftigten sprachen sich 67 Prozent für eine Interessenvertretung aus. Die Befragung fand von Dezember 2012 bis Januar 2013 in ganz Niedersachsen statt. Auf der Internetseite der Pflegekammer heißt es, damals hätten nicht alle Pflegekräfte befragt werden können, weil es keine Datenbank gegeben habe.

Im August 2018 wählten die 31 Mitglieder der Kammerversammlung den ersten Vorstand. Präsidentin ist seitdem Sandra Mehmecke, die bis 2023 gewählt ist.

Das Verwaltungsgericht Hannover urteilte im November 2018, dass ein Zwangsbeitritt verfassungsgemäß sei, weil er nicht gegen die Grundrechte verstoße. Die Kammer verfolge „einen legitimen Zweck“, weil sie einen Beitrag leiste, die Bevölkerung mit „standardgerechter Pflege“ zu versorgen. Eine Berufung beim niedersächsischen Oberverwaltungsgericht ist anhängig. gum

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Und sie haben Fragen, Jaqueline-Nana Nehrig zum Beispiel. „Wir wissen nicht, wofür unsere Beiträge ausgegeben werden. Für Bürostühle und Cappuccino?“ Wolfgang sagt, dass die Kammer am Personalmangel und zu geringer Bezahlung in Pflegeberufen nichts ändern kann, das sei Gewerkschaftssache. „Es ist heiße Luft, wenn behauptet wird, die Kammer sei unsere Lobby.“ Eine junge Intensivpflegerin würde gerne wissen, wie sie Fortbildungen besuchen soll, wenn Arbeitgeber Freistellungen wegen Personalmangels verweigern. Im Friederikenstift arbeitet auf der Intensivstation Gaby Butter, Pflegerin seit 18 Jahren, und enttäuscht von den ersten Monaten: „Die Kammer informiert zu spät und schlecht. Ich kenne keine Pflegekraft, die mit der Gründung einverstanden war.“

In der heftig geführten Debatte wiederholen sich nun im Kern zwei Argumentationen, die sich bei einer Befragung des Instituts infratest dimap vor sechs Jahren ergaben. Damals wollte das Sozialministerium wissen, ob Beschäftigte in Heilberufen eine Pflegekammer haben wollten. Das Ergebnis: Von 1039 Befragten in Niedersachsen waren 67 Prozent für einen eigenen Lobbyverband. Wer gegen eine Kammer war, fürchtete verpflichtende Mitgliedschaft und Beiträge und glaubte, dass eine Kammer weder Fachkräftemangel beseitigen könnte noch zu niedrige Löhne. Ein weiterer Kritikpunkt: Sorge um zusätzliche Bürokratie. Befürworter einer berufsständischen Lobby sahen in ihr eine politisch „eher unabhängige“ Vertretung. Sie könne Pflegekräften Anerkennung verschaffen und mit einheitlicher Stimme auftreten. Ein weiteres Argument: „Die Selbstverwaltung würde die Qualität der Pflege nachhaltig stärken.“

In Linden verfolgt Sven Bichtemann, 25, die Debatte. Er ist Pfleger bei der Herz-, Thorax- und Transplantationschirurgie der MHH und hat die klare Meinung, dass Pflegekräfte eine starke politische und fachliche Vertretung brauchen. „Ich bin absolut für eine Pflegekammer und dafür, dass Beschäftigte Mitglied sein müssen.“ Im Alltag, erzählt Bichtemann, werde auf vielen Stationen über Missstände geredet, doch jetzt, wo endlich eine eigene Interessenvertretung existiere, „beschweren sich Pfleger, dass sie dafür Beiträge bezahlen müssen“. Er hofft auf möglichst viele Mitglieder, um mehr Druck, etwa auf Politiker, machen zu können.

Damit steht er nicht allein unter Kollegen. MHH-Kinderkrankenpflegerin Linda Waldmann erinnert daran, dass Pflegekräfte die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen stellten. „Viele Mitarbeiter fühlen sich klein, aber sie wissen nicht, wie viel Macht sie eigentlich haben.“ Eine starke Pflegekammer würde gesicherte Weiterbildung garantieren und dafür sorgen, dass der Beruf bei politischen Debatten zu Wort komme. Beiträge, die viele Kollegen nicht aufbringen wollen, hält sie für notwendig: „Natürlich muss das was kosten, dann kommt mehr rein, als durch freiwillige Beiträge.“

Der im Ton mitunter oft unversöhnlich wirkende Streit setzte sich am Freitag fort. Die Gewerkschaft Verdi, von der manche sagen, sie sähe in der Pflegekammer eine Konkurrenz, forderte eine erneute Befragung über die Kammer, nun aber unter allen Pflegekräften. Tausende Anrufe und Hunderte Protestschreiben seien eingegangen. „Die Empörung ist groß. Wegen der aktuellen Entwicklungen und Proteste ist jetzt eine unabhängige Befragung aller Pflegekräfte von einem unabhängigen Institut nötig“, sagte Verdi-Landeschef Detlef Ahting.

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Am Freitag meldete sich auf Anfrage der HAZ auch Kammerpräsidentin Sandra Mehmecke. Eine weitere Befragung lehnt sie ab. Das Gesetz sei verabschiedet, zur Mitte der Wahlperiode sei vorgesehen, Resultate der Pflegekammer zu überprüfen. „Deshalb müssen wir jetzt nicht über eine erneute Abstimmung diskutieren. Die Pflegekammer Niedersachsen braucht als junge Institution Zeit, um konkrete Ergebnisse zu liefern.“ Mehmecke hatte nach einem Gespräch mit Ministerin Reimann angekündigt, die heftig kritisierte Beitragssatzung zu überarbeiten. Die Präsidentin glaubt, dass die Kammer nur Aufhänger für Protest ist, „der sich über jahrelang aufgestauten Frust über schlechte Arbeitsbedingungen, Personalknappheit und geringe Bezahlung manifestiert“. Zwei kursierenden Gerüchten widersprach die Kammer. Es gebe keine Fortbildungspunkte, die Kammer könne auch keine Examen einziehen. Und es müsse nicht Zwangsmitglied bleiben, wer seinen Beruf nicht mehr ausübe.

Gegner von Pflegekammer und Zwangsmitgliedschaft hoffen nun auf das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg. Dort will eine Klägerin, Geschäftsführerin und gleichzeitig stellvertretende Pflegeleiterin, im Berufungsverfahren erreichen, dass die verpflichtende Zugehörigkeit zum Berufsverband als verfassungswidrig erklärt wird. Verwaltungsrichter in Hannover hatten im November noch keine Bedenken. In Lüneburg könnte es für die Pflegekammer schon um ihre Existenz gehen.

Von Gunnar Menkens

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