Angst vor Tiktok: Schaufeln sich Facebook und Instagram ihr eigenes Grab?
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Tiktok ist mittlerweile Vorbild für die großen Techkonzerne im Silicon Valley
© Quelle: Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa
Hannover. Es soll ja Zeiten gegeben haben, da hatte jedes soziale Netzwerk noch seinen ganz eigenen Charakter. Wer den Austausch mit Freunden und Freundinnen suchte, der loggte sich bei Facebook ein – wer Stress mit Fremden suchte, ging zu Twitter. Und wer danach noch mal runterkommen wollte, öffnete zur Entspannung Instagram und sah dort schicke Hochglanzfotos – entweder aus einem hippen Urlaubsort oder aus der Loftwohnung irgendeiner Influencerin.
Dass die Zukunft der sozialen Netzwerke auch noch so aussehen wird, ist mehr als fraglich – zumindest lassen die Pläne des Meta-Konzerns anderes vermuten. Der will in Zukunft nämlich bei all seinen Plattformen auf zwei grundlegende Dinge setzen: Kurze Videos und neue Inhalte, die von einem Algorithmus empfohlen werden.
Grund dafür ist der Erfolg des chinesischen Netzwerks Tiktok, das mit genau diesem Konzept rasant wächst – und Facebook und Instagram reihenweise Nutzerinnen und Nutzer abjagt.
Posts von Freunden rücken in den Hintergrund
In einer Meta-Pressemitteilung, die der Konzern vergangene Woche auf seiner Website veröffentlich hatte, kündigt der Konzern nichts weniger als eine radikale Veränderung der Facebook-App an – dem Dinosaurier unter den sozialen Netzwerken.
Konkret soll die Startseite der App künftig Home heißen und verstärkt Beiträge ausspielen, die der Nutzer oder die Nutzerin gar nicht abonniert hat. Gezeigt werden sollen Beiträge von sogenannten Creators, die perfekt auf die Interessen des Users und der Userin zugeschnitten sind. Interessiert sich dieser oder diese etwa für Musik, bekommt er oder sie mehr Musikposts, interessiert er oder sie sich für Tiere oder Gartenarbeit bekommt er oder sie Posts aus diesem Genre. Ein Rankingsystem soll immer wieder neue Inhalte vorschlagen und entscheiden, was zum User oder zu der Userin passt und was nicht.
Die Konsequenz dürfte klar sein: Beiträge von Freunden und Freundinnen oder von Seiten, die ein Nutzer oder eine Nutzerin tatsächlich abonniert hat, rücken deutlich in den Hintergrund. Diese wiederum lagert Facebook weniger prominent in eine neue Rubrik namens Feed aus. Hier werden die abonnierten Inhalte chronologisch angezeigt, ohne die Hilfe eines Algorithmus.
Der Algorithmus entscheidet
Die Strategie erinnert eindeutig an die der chinesischen Konkurrenzplattform Tiktok: Auch hier entscheidet vor allem ein Algorithmus, welche Inhalte zum jeweiligen User oder der jweiligen Userin passen – im Falle von Tiktok sind das kurze Videos. Die Folge: Ein nicht enden wollender personalisierter Feed – und ein hohes Suchtpotenzial. Zwar lassen sich bei Tiktok auch einzelne Videomacherinnen und Videomacher abonnieren – der Feed für abonnierte Inhalte spielt in der App jedoch kaum eine Rolle. Die Verbindung zwischen Produzenten und Produzentinnen von Inhalten und ihrer Followerschaft wird zur Nebensache.
Und damit nicht genug: Auch die Meta-App Instagram hat Veränderungen angekündigt. Man wolle das Thema Video „verbessern“, hatte Instagram-Chef Adam Mosseri in den vergangenen Wochen mehrfach angekündigt. Man könnte auch sagen: Die Plattform will algorithmusbasierte Kurzvideoinhalte zum zentralen Thema machen und sich von ihrem bisherigen Steckenpferd, nämlich Fotoposts, mehr oder weniger verabschieden.
Deshalb wurde an einigen Nutzerinnen und Nutzern zuletzt ein neues Design der App getestet. Im Startseiten-Feed wurden Videos und Fotos deutlich größer angezeigt, dafür die Bildunterschriften und Kommentare ausgeblendet – auch das erinnert stark an das Vollbildformat von Tiktok. Statt mit Hochglanzbildern werden Userinnen und Usern immer häufiger mit Reels konfrontiert – eine 1:1 kopierte Variante der Tiktok-Kurzvideos.
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Petition gegen Änderungen
Gegen die Veränderungen regt sich inzwischen Protest. Insbesondere Fotokünstlerinnen und -künstler, die zuvor mit Bildposts auf Instagram erfolgreich waren, sehen ihre Lebensgrundlage gefährdet. Auch eine Petition gegen die Änderungen gibt es inzwischen. Auf der Plattform „Change.org“ heißt es in der Überschrift: „Macht Instagram wieder zu Instagram. Versucht nicht Tiktok zu sein, wir wollen nur nette Fotos unserer Freunde sehen.“
Im Text zur Petition fordert die Erstellerin einiges. „Bringt die chronologische Timeline zurück“, heißt es da etwa. „Es ist nicht nötig, die Dinge zu verkomplizieren. (…) Das Schöne an Instagram war, dass Posts in Echtzeit angezeigt wurden. In den Anfängen der App lebten wir alle im Moment und sahen unsere besten Momente sofort.“
Zudem fordert die Erstellerin der Petition, dass der Instagram-Algorithmus künftig wieder Fotos bevorzugt, keine Videos. Und: Sie fordert mehr Wertschätzung für Content-Lieferanten und -Lieferantinnen, „die ihren Lebensunterhalt verdienen und zur Community beigetragen haben, wodurch sie gezwungen werden, ihre gesamte Inhaltsrichtung und ihren Lebensstil zu ändern, um einen neuen Algorithmus zu bedienen.“
Zeitfresser Tiktok
Warum der Meta-Konzern seine Apps so radikal umstrukturiert, liegt auf der Hand. Das chinesische Tiktok gehört zu den am schnellsten wachsenden Apps – und hat sich insbesondere bei Jugendlichen als echter Zeitfresser etabliert. Wer einmal die App öffnet, kann dort mitunter Stunden in seinem eigenen personalisierten Videofeed verbringen, ohne, dass es langweilig wird – und ohne, dass man die App wechseln muss. Tiktok ist eine Entdeckungsmaschine, die verlässlich neue Inhalte liefert – und damit Zuschauerinnen und Zuschauer deutlich besser bindet als Plattformen, die noch auf einen klassischen Newsfeed setzen.
Die Kampfansage der US-Techkonzerne auf den Hype ist bislang nicht sonderlich kreativ. Die beliebten Funktionen der App Tiktok wurden zuletzt einfach kopiert. So wurden bereits im Jahr 2020 bei Instagram die Reels eingeführt, später folgte auch Google-Tochter Youtube mit dem Tiktok-Klon Youtube Shorts.
Bereits im Mai hatte Meta-Chef Mark Zuckerberg ausführlich beschrieben, wie seiner Ansicht nach die Zukunft der Plattformen Facebook und Instagram aussehen muss. Kurz darauf wurde ein internes Konzeptpapier geleaked, dessen Botschaft ebenfalls eindeutig ist: Facebook und Instagram sollen langfristig mehr wie Tiktok werden – weg vom followerbasierten Newsfeed, hin zum Entdeckungsmodus.
Das Nachsehen haben die Fotografen
Wer heute die Facebook-App öffnet und durch seinen Freundes-Feed scrollt, stößt schon nach dem dritten oder vierten Post auf den Tiktok-Clon Reels. Häufig handelt es sich dabei um billig-trashige Clips, die bereits vor mehreren Monaten auf der chinesischen Plattform erfolgreich waren – und nun noch mal für Instagram und Facebook recycelt werden. Bei Instagram werden Reels an allen möglichen und unmöglichen Orten der App vorgeschlagen, etwa im Newsfeed und in der Suchfunktion der App.
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Das Nachsehen der Entwicklung haben insbesondere diejenigen, die bislang mit ganz anderen Inhalten auf den Plattformen erfolgreich waren. Sie stehen nun vor der Entscheidung, den Kurzvideohype mitzumachen – oder ihn zu ignorieren und damit möglicherweise in die Irrelevanz zu rutschen.
Da die Plattformen die Kurzvideos mächtig pushen, lässt sich damit innerhalb kurzer Zeit eine große Reichweite aufbauen. Gleichzeitig werden Kreative für ihre Clips von den Plattformen ungeheuer schlecht bezahlt: Bei Tiktok und Youtube Shorts gibt es sogenannte Creator Funds, die ein paar Euro pro Kurzvideo abwerfen – das ist aber bei weitem nicht so lukrativ wie etwa ein externes Sponsoring in einem Instagram-Bildpost oder die Werbeeinnahmen, die für ein langes Youtube-Video ausgezahlt werden. Instagram bietet einen solchen Creator-Fund gar nicht erst an.
Es wird lauter, schriller, trashiger
Das Nachsehen haben aber auch die Nutzerinnen und Nutzer der Plattformen. Denn die Kurzvideos tragen nicht gerade zur Qualitätssteigerung der Netzwerke bei. Wer mit einem Reel erfolgreich werden will, muss nach den Regeln des Algorithmus spielen. Wischt ein Nutzer oder eine Nutzerin ein Video nach wenigen Sekunden weg, so wird der Clip vom Rankingsystem abgewertet.
Die Folge: Erfolgreiche Reels und Shorts sind oft schnell, schrill, laut und trashig, damit sie innerhalb von Sekunden möglichst viel Aufmerksamkeit erzielen und Nutzerinnen und Nutzer bei der Stange halten. Das erhöht die Lautstärke in den sozialen Netzwerken enorm – und das fällt insbesondere bei dem einst so entspannten Fotonetzwerk Instagram auf.
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© Quelle: AFP
Wer heute durch die Plattformen scrollt, trifft dort auf Teenies, die in ihren Kinderzimmern billig produzierte Sketche aufnehmen – meistens wird darin gebrüllt. Man trifft auf Influecerinnen und Influencer, die sexy in die Kameras schmachten – und auf Finanzgurus vor teuren Autos, die dubiose Investmenttipps an den Mann oder die Frau bringen. Häufig sind das nicht einmal Originalinhalte. Oft werden Ausschnitte aus Fernsehsendungen in schlechter Qualität recycelt, manchmal werden Klickhits von Tiktok einfach geklaut und von Dritten auf Instagram hochgeladen.
Techkonzerne stehen vor Dilemma
Bei Tiktok ist das anders: Hier haben einige Kreative das Kurzvideoformat zu einer Kunstform entwickelt, präsentieren dort Musik, Satire und Gedanken zum Zeitgeschehen. Doch viele dieser Tiktok-Künstlerinnen und -Künstler scheinen gar nicht auf die Konkurrenzplattform Instagram wechseln zu wollen. Sie beklagen, dass sie dort in einem Schwall aus Kurzvideoinhalten untergehen und – anders als bei Tiktok – kaum eine Chance haben, gesehen zu werden.
Die US-Techkonzerne stehen nun vor einer riesigen Herausforderung – und möglicherweise vor einem Dilemma. Sie setzen technisch alles daran, Tiktok die Nutzerinnen und Nutzer abzugewinnen – und laufen gleichzeitig Gefahr, mit den Updates Kreative und die Stammnutzerschaft zu verjagen.
In der Petition gegen die Instagram-Änderungen heißt es: „Wir haben Tiktok aus einem bestimmten Grund. Und seien wir ehrlich: Die einzigen hochgeladenen Reels sind recycelte Tiktoks und Inhalte, die die Welt bereits gesehen hat. Was ist innovativ und einzigartig an veralteten Inhalten? Nichts!“
Die Petition endet mit einem Appell: „Hören Sie auf die Community. Berücksichtigen Sie unsere Gedanken und Wünsche!“ Inzwischen wird das Schreiben im Sekundentakt von dutzenden Menschen unterzeichnet. Am Montagabend waren es bereits 86.000.
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