Leblos in Helsinki: dritte Staffel der Thrillerserie „Deadwind“ bei Netflix
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Wer mordet da und weshalb? Sofia Karpii (Pihla Viitala, r.) und Sakari Nurmi (Laui Tilkanen, l.) auf der Spur eines Killers mit Faible für Leichenarrangements. Die dritte Staffel der finnischen Serie „Deadwind" ist inspiriert von David Finchers Kinoklassiker „Sieben".
© Quelle: Netflix
Jemand lud mitten in der Nacht eine Leiche ab, trug sie ins Scheinwerferlicht seines Wagens und grub ihr ein Grab. Der Ort war in Sichtweite von Häusern, in dem Streifen zwischen Stadt und Meer, und die erste Schaufel Erde ließ der Unbekannte über die Tote in der Folie rieseln, so als sei er ihr zärtlich verbunden. Später, als man Anna Bergdahl wieder ausgrub, fand man tatsächlich Lilien auf der Brust der Toten – ein so schönes wie verstörendes Bild. Als sei sie mit Liebe ermordet worden.
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Es war der Tag, an dem die erste Staffel von „Deadwind“ startete, an dem wir Sofia Karppi (Pihla Viitala) kennenlernten, eine Polizistin aus Helsinki, die mit Deduktion ebenso vertraut schien wie mit spontaner Eingebung. Als die Kollegen Taucher ins Meer schicken wollten, um die Tote zu suchen, schlug Karppi vor, doch lieber die Hunde zu holen. Recht hatte sie. Es war auch der Tag, an dem wir Sakari Nurmi (Lauri Tilkanen) kennenlernten, ihren neuen Teamgefährten – einen rechthaberischen, zuweilen auch nützlichen, gebildeten wie eingebildeten Kollegen, der sich schon mal ungefragt einmischte, wenn er glaubte, die Kollegin sei auf dem Holzweg. Ein Antiteam, dem man bis heute gerne zuschaut – wie Sarah Lund und Jan Meyer („Kommissarin Lund, das Verbrechen“, 2007–2012) oder Saga Noren und Martin Rohde („Die Brücke“, 2011–2018).
Die Toten von Helsinki waren in ein Pharmaprojekt involviert
Jetzt geht die Serie von Showrunner, Autor und Regisseur Rike Jokela in die dritte Staffel. Und die Tote, die Karppi diesmal vorfindet, wurde ungleich grausamer behandelt: In einem Käfig kauert ein Leichnam mit fixierten Armen und Beinen und einem in den Rücken geritzten „Muster“, in dem bald schon der Äskulapstab, das Zeichen für Medizin und Pharmazeutik, erkennbar wird. Tulli Siren war bei dem Pharmaunternehmen Memfi leitende Wissenschaftlerin eines Opioidentzugsprojekts.
Bald schon wird der nächste Tote gefunden, ein Arzt, angebunden auf einem Acker. Auch er hatte mit der Entwicklung des Opioids zu tun. Morde aus Protest gegen Tierversuche? Angeblich gab es einen „schrecklichen Vorfall“ mit den Laborratten. Morde, weil jemand nicht will, dass den Junkies geholfen wird? Die Rechten sind heutzutage immer und überall.
Ein erster Hauptverdächtiger scheidet schnell als Mörder aus
Es bleibt nicht das letzte bizarre Körperkunstwerk in und um Helsinki. Ein Serienmörder, dessen Faible für Arrangements an Kevin Spaceys John Doe in David Finchers „Sieben“ (1995) erinnert, geht um (auch eine aus Jonathan Demmes „Das Schweigen der Lämmer“ von 1989 abgekupferte Szene ist zu sehen). Und Karppi tappt gemeinsam mit Nurmi – mit dem sie nach einem „Verrat“ in der zweiten Staffel zunächst eher reserviert zusammenarbeitet – in puncto Motiv längere Zeit im Dunkeln.
Ein erster, durchgeknallter, hyperaggressiver Hauptverdächtiger liefert sich eine (fantastisch inszenierte) Verfolgungsjagd mit der Polizei (die Szene mit dem Containerstapler im Hafen ist eine für Herzstillstände!), liegt jedoch alsbald als Kollateralschaden des Killers selbst mit einem Kopfschuss in einem Boot. Und jetzt das Ganze noch mal von vorn.
Atmosphäre ist die halbe Miete bei Nordic-Noirs
Über fast die volle Distanz hält die Serie auch in ihrer dritten Staffel das Publikum in ihren Fängen. „Deadwind 3″ ist ein düsterer Thriller für ein Publikum mit Liebe zu anmutiger Schwermut. Der Asphalt der Nacht ist im Laternenlicht olivgrün, gleißendblau wirft sich das Licht der Polizeifahrzeuge in die finnische Düsternisse. Und bei Tag stapelt sich dann meist schweres Gewölk am Himmel über Helsinki. Juri Seppäs Musik klingt traurig, brodelt oder ist – wenn sich Karppi oder jemand anderes in Gefahr begibt – ein blauschwarzes Gewitter in Klang. Atmosphäre ist die halbe Miete bei Nordic-Noirs, die Tiefe der Beziehung zu den Protagonistinnen und Protagonisten die andere.
Karppi, immer noch ohne Haarbürste und damit weiterhin der Inbegriff einer sexy Ungepflegtheit, hat keine Zeit für Privates und gerade deshalb private Probleme zuhauf. Ihre Ziehtochter Henna (Mimosa Willamo) versucht, nach einer Haftstrafe auf eigenen Beinen zu stehen und stolpert prompt in das nächste Verbrechen. Karppis leiblicher Sohn Emil (Noa Tola) hat keine Lust mehr auf seine Immer-im-Dienst-Mama. „Weil ich schon zwölf bin, habe ich auch etwas zu sagen“, erklärt er.
War der tragische Tod von Karppis Mann gar kein Unfall?
Er bleibt zur Strafe beim Opa auf dem Land, was die Voraussetzung schafft für einen höchst dramatischen, indes nicht allzu plausiblen Showdown. Zwei Jahre nach dem Unfalltod ihres Mannes in Hamburg – er wurde beim nächtlichen Joggen überfahren – kommt dann auch noch ein Anruf aus Deutschland, demzufolge ihn damals jemand geschubst hat. Auch dieser Todesfall scheint irgendwie mit den aktuellen Ermittlungen im Fall des Äskulapmörders zusammenzuhängen. So klein ist die Welt.
Fehlt jetzt nur noch, dass auch Nurmis Privatleben eine Rolle spielt? Und wie es das tut! Der bislang recht gefühlskalte Schnösel ist, wie wir in der ersten Staffel erfuhren, nach einem One-Night-Stand Vater eines Sohnes geworden, um den er sich bislang ebenso wenig schert wie um die drogensüchtige Mutter. Ebenjene Laura (Jemina Sillanpää) kann sich dann gleich zweimal aus einem unheimlichen Haus im finnischen Nirgendwo befreien, wo sie gefangen gehalten wurde und bricht in Helsinki auf offener Straße zusammen – praktischerweise direkt vor einem Streifenwagen.
Und eine weitere Kurzzeitgeliebte des libidinös eifrigen Polizisten spielt dann noch eine weit bedeutsamere Rolle bei dieser Jagd, in der die Jäger schließlich zu Gejagten werden, und in der die Publikumseinschätzung trotz aller Spannung von „unglaublich“ zu „unglaubwürdig“ wechselt.
Die beiden Helden kommen sich wieder näher. Sie teilen sich eine Friedensmandarine. Sie stellen fest, dass sie immer noch nicht viel voneinander wissen. Dass sie sich mit neuem Wissen übereinander aber wohlfühlen. Sie nehmen einander in Krisensituationen in den Arm und tun Dinge füreinander, die man als „Aufopferung“ klassifizieren könnte. Man könnte es auch Liebe nennen.
„Deadwind“, dritte Staffel, acht Episoden, von Rike Jokela, mit Pihla Viitala, Lauri Tilkanen, Mimosa Willamo, Mari Peranoski (bei Netflix)
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