Im Amsterdam der 80er-Jahre

„Dirty Lines“ bei Netflix: Was Sie schon immer über Sexhotlines wissen wollten

Die (S-)Expertin der Hotline: Marly (Joy Delima) stammt eigentlich aus einem eher erosfeindlichen Herrenhaus. Szene aus der niederländischen Serie „Dirty Lines“.

Die (S-)Expertin der Hotline: Marly (Joy Delima) stammt eigentlich aus einem eher erosfeindlichen Herrenhaus. Szene aus der niederländischen Serie „Dirty Lines“.

„Ja, das Amsterdam wie ihr es kennt, gab‘s damals noch nicht. Hinter dem Hauptbahnhof gab es einen Straßenstrich, ganze Wohnviertel verwahrlosten. Auf dem Damm wurde offen mit Koks gedealt. Und wenn man keine Wohnung fand, besetzte man ein Haus. Ja, bis der Eigentümer ein Räumkommando schickte, um die Besetzer mit Schlagstöcken zu vertreiben. Aber ich wohnte in einem Außenbezirk. Lichtjahre weg vom Ort des Geschehens.“ Das erzählt uns die Studentin Marly (Joy Delima) als Einführung in die Serie „Dirty Lines“ (Netflix, bereits streambar) von Pieter Bart Korthuis. Was ziemlich depri klingt für eine Serie des Comedyspektrums. Und die erste Szene dürfte auch so manchem Zuschauenden Tränen in die Augen treiben.

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Denn da fährt ein sichtlich verzweifelter Mann mit einem zaghaften Achtzigerjahreschnäuzer einen Ferrari über den Rand des Hafenbeckens. Eine Weile hängt der feuerrote Superschlitten noch in der Schwebe, aber wir wissen, was passiert, und da rutscht er auch schon außer Sicht. Platsch und weg. Frank Stigter, der Großunternehmer in Telekommunikation, der mit seinem Bruder Ramon die erste Sexhotline der Niederlande gründete, ist offenkundig nicht mehr auf der Seite des Glücks unterwegs. Wie es zum Autoversenken kam, will man natürlich wissen. Und so ist man auch schon am Haken dieser Serie.

Die Heldin befreit sich aus einem konservativen Elternhaus

Deren eigentliche Heldin Marly ist. Die junge Frau will sich von zu Hause freischwimmen, wo eine strenge Mutter sowohl den Vater als auch die Tochter unterm Pantoffel hat. Man darf nicht so lange wegbleiben und man darf erst recht keinen Jungen mit nach Hause bringen. Sex dient allein der Fortpflanzung und hat kein Vergnügen zu sein. Basta!

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Ausziehen muss die Studentin Marly schließlich, weil sie sich ein wenig Geld mit „Geschichten“ verdient und das Fernsehen sie gefilmt hat, als sie in einer Kabine von Frank und Ramons fiktiver Firma Teledutch ein Sexband einsprach. So beginnt ihr Leben.

Marly wendet sich immer wieder direkt an den Zuschauenden

Und so rollt diese Komödie über (Audio-)Pornografie an. In der Marly immer wieder à la „Modern Family“ die vierte Wand zum Zuschauer und der Zuschauerin einreißt, indem sie etwa mitten im Akt mit Augenrollen die männliche Selbstbespiegelung beim koitalen Miteinander kommentiert oder an den Wissensstand in Sachen Eros vor 35 Jahren erinnert.

Sätze fallen wie: „Die Libido ist eine Theorie von Freud. Aber noch keine Untersuchung hat je bewiesen, dass es sowas wie einen Urtrieb wirklich gibt, der Männer dazu zwingt, zu jagen. Naja, was soll ich sagen, wir haben 1987. Eine Zeit, in der Wissenschaftler noch denken, dass die Klitoris eine kleine Erbse wäre. Obwohl sie die Spitze einer gigantischen Pyramide ist.“ Sie gehen runter wie Öl. Die Schauspielerin Delima hat auf Instagram eine Rubrik „Sex mit Tante Joy“ und schreibt auch für die Amsterdamer Tageszeitung „de Volkskrant“ zum Thema.

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Frivoles ist doof? Trotzdem dabeibleiben!

Cunnilingus, Fellatio, A-Tergo-Sex und einiges mehr werden mehr als angedeutet in dieser Verfilmung des Buchs „06 Cowboys“ von Fred Saueressig – darüber muss man sich im Klaren sein. Die Sprache ist allzeit explizit und das Klischee, dass Frauen beim Sex stets ekstatisch und laut sind – anders wäre Audiopornografie wohl kein Verkaufsschlager geworden – wird geradezu totgeritten. Wer Frivoles per se doof findet, sollte trotzdem nicht gleich nach einer alternativen Binge-Sause Aussicht halten.

Erfolg mit Audiopornos: Ramon (Chris Peters, v.l.), sein Bruder Frank (Minne Kool), Nina (Laura Bakker) und Marly (Joy Delima).

Erfolg mit Audiopornos: Ramon (Chris Peters, v.l.), sein Bruder Frank (Minne Kool), Nina (Laura Bakker) und Marly (Joy Delima).

Denn die „Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-und-zurück“-Geschichte lebt von ihrem weitgehend liebenswerten Personal. Vom ewig entscheidungsunfreudigen Frank (Minne Koole), der gleich zwei Sportwagen kauft, nachdem er Vater geworden ist – und in keinen passt eine Babyschale. Und von seinem Brüderchen Ramon (Chris Peters), der nur mit seiner Frau schlafen kann, wenn er dabei auf Bilder mit knackigen Kerlen schaut.

Und von Frauen wie Marly, Janna (Julia Akkermans), Nastasja (Charlie Chan Dagelet) und Anoek (Abbey Horns), die über Tellerränder schauen, wo die Kerle nur in der Suppe schwimmen, die erwachsen sind oder es werden und sich emanzipieren von den Männern, denen der Erfolg von 300 rund um die Uhr belegten Leitungen zu Kopf steigt, deren Geschäftsideen zunehmend krude werden, die Champagner in Bordellen schlürfen und die Wirklichkeit aus den Augen verlieren. Während die Telekommunikationskonkurrenz in Rotterdam nicht schläft.

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Parallel erstehen die Achtzigerjahre neu – in ihren Klamotten und Frisuren, im abgefeierten gewonnenen EM-Halbfinale der Niederlande gegen die Bundesrepublik (2:1) – wichtig „nicht nur wegen des Krieges auch wegen des verlorenen WM-Finales von 1974″ (O-Ton Marly). Vom Aufstieg der Housemusik (außer in den Niederlanden) hört man, von Ecstasy und Aids. Die Vergangenheit wird gegenwärtig.

Um nochmal auf den Ferrari zurückzukommen

Der Ferrari ist ein Testarossa. Das heißt zwar wörtlich übersetzt „Rotschopf, Rotkäppchen“ (und bezieht sich auf die rot lackierten Ventildeckel des 12-Zylinder-Motors) – klingt aber nach dem maskulinsten Modellnamen der Autogeschichte.

Und so wird zum Beginn von „Dirty Lines“ reine Männlichkeit versenkt.

„Dirty Lines“, sechs Episoden, von Pieter Bart Korthuis, mit Joy Delima, Minne Kool, Julia Akkermans, Chris Peters (bei Netflix).

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