Das Grauen in der Prinsengracht 263 – Anne Frank wird zur Disney-Serie
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/FEZ4W652IJGXNNLLSLTVBPTZDM.jpg)
Lichterfest im Hinterhaus: Miep Gies und ihr Mann Jan feiern mit den versteckten jüdischen Familien. Szene aus der Serie „Ein Funken Hoffnung“ (von links Liev Schreiber als Otto Frank, Ashley Brooke als Margot Frank, Rudi Goodman als Peter van Pels, Billie Boullet als Anne Frank, Amira Casar als Edith Frank, Caroline Catz als Frau van Pels, Noah Taylor als Dr. Pfeffer, Joe Cole als Jan Gies, Bel Powley als Miep Gies, und Andy Nyman als Herr van Pels).
© Quelle: National Geographic for Disney/Dusan Martincek
Eine „ganz gewöhnliche Fahrradfahrt“ werde es, verspricht Miep Gies der zögernden Margot Frank. Aber natürlich stimmt das nicht, es ist alles andere als das, denn sie müssen an einer deutschen Kontrolle vorbei. Margot ist Jüdin, das einst freie Amsterdam ist im Juli 1942 schon mehr als zwei Jahre von Hitlerdeutschland besetzt. Vor der Brücke ist ein Schlagbaum, schwarze Autos, bewaffnete Uniformierte, Hakenkreuzfahnen.
Eine fröhliche Radtour in die Prinsengracht 263
„Schau nicht so nervös“, sagt Miep und dann radeln und kichern sie und die Nazis halten sie für alberne Gänse auf Ausflug – „Lasst sie durch!“. Aber es geht in den Unterschlupf in die Amsterdamer Prinsengracht 263, in das wohl berühmteste Versteck vor den Nazis. Es eilt, denn die Deportationen der jüdischen Niederländer und der in die Niederlande geflüchteten Deutschen in die Vernichtungslager in Polen haben begonnen.
Margot Frank (Ashley Brooke) ist die ältere Schwester von Anne Frank, deren Tagebücher bis heute das wohl berühmteste Zeugnis eines Lebens im Versteck vor der NS-Diktatur sind. Und Miep Gies (Bel Powley) ist die Freundin der Familie Frank, die einst von Otto Frank (Lieb Schreiber) bei der Amsterdamer Niederlassung der deutschen Geliermittelfirma Opekta angestellt wurde und die den vier Franks, der dreiköpfigen Familie van Pels und dem Zahnarzt Dr. Pfeffer im Hinterhaus das Überleben sicherte, sie mit Essen, Wissen und Aufmunterung versorgte. Bis die Versteckten schließlich – wahrscheinlich durch Verrat – verhaftet wurden und nach Auschwitz kamen.
Die achtteilige Miniserie „Ein Funken Hoffnung – Anne Franks Helferin“ (ab 1. Mai bei Disney+) erzählt die seit George Stevens‘ „Das Tagebuch der Anne Frank“ (1959) schon mehrfach verfilmte Geschichte aus einem weniger bekannten Blickwinkel. Hier steht Anne (Billie Boulet) nicht im Zentrum der Geschichte, ist sie nur eine von acht Menschen im Versteck, die sich hinter der als Aktenregal getarnten Tür ängstigen.
Empfang im Hinterhaus: „Willkommen in der Schweiz“
Die Klaustrophobie eines Daseins in beengtem Raum, die Sehnsucht nach „der Welt“ und „dem Leben“ wird trotzdem spürbar – in den blank liegenden Nerven von Edith Frank (Amira Casar) etwa, die ihren Mann Otto mit Vorwürfen überzieht, nicht rechtzeitig aus den Niederlanden geflohen zu sein. „Wir existieren nicht“, sagt Margot Frank fast tonlos und verleiht damit dem Gefühl Ausdruck, vom Leben abgeschnitten zu sein.
Aber es gibt neben Trübsal auch Herzlichkeit. Das Lichterfest wird gefeiert. „Ich dachte, Sie sind in der Schweiz“, ruft Dr. Pfeffer aus, als er in der Zuflucht die Franks erblickt. „Willkommen in der Schweiz“, erwidert Frank mit offenen Armen.
Die sonst in Frank-Filmen unsichtbare Bedrohung durch die Besatzer wird auf den Straßen Amsterdams zum brutalen Alltag. Überall stöbert die SS nach Juden und Widersachern – mit perfidesten Mitteln. Ständig finden beiläufig Gesinnungsprüfungen statt. Und Verkäufer werden aufgefordert, Kunden zu melden, die verdächtig oft oder ungewöhnlich viele Lebensmittel einkaufen. Weil sie damit möglicherweise Juden miternähren.
Es gibt die sorglosen Zeitgenossen, die das Glück haben, zu keiner verfolgten Minderheit zu gehören, es gibt die Helfer an oft unerwarteter Stelle, sogar einen SS-Mann, der mit einer Kinderrettung seinen Hals riskiert. Und es gibt die Geschäftemacher, die das sogenannte Dritte Reich als Melkkuh ansehen wie der Mann von Mieps bester Freundin. Tess (Eleanor Tomlinson) schenkt Miep eine Halskette, die Otto Frank als jüdisches Schmuckstück erkennt. Wodurch klar wird: Die Leute raffen die Schätze der zur Ermordung Verdammten bereits an sich. Es gibt keine Scham, wenn die Beraubten doch eh nie mehr zurückkehren werden.
„Morning Show“-Sidekick Bel Powley steht im Mittelpunkt
Atemraubend spannend und bewegend ist diese Serie - von der ersten Episode an, in der der Frankfurter Geschäftsmann Frank 1934 im niederländischen Exil Fuß fasst, bis zu der Erkenntnis nach Kriegsende, dass niemand von seiner Familie und den anderen Versteckten den Holocaust überlebt hat.
Bel Powley ist in der Rolle der Miep Gies temperamentvolle Treiberin des Geschehens. Schon in der Apple-TV+-Serie „The Morning Show“ war die britische Schauspielerin als in den „Wetterfrosch“ Yanko Flores verliebte Claire der Anker des Anstands in der von Intriganz und Missbrauch durchsudelten Sphäre des New Yorker Frühstückfernsehens. Und auch hier ist sie das: Ihre Miep verliert nie ihre Entschlossenheit und ihren Mut und nur selten ihr ansteckendes Lachen.
Der Mut einer Verzweifelten im Hauptquartier der SS
Und am Ende steigt sie unerschrocken sogar die Treppen der Amsterdamer NS-Hauptquartiers hoch, um ihre inhaftierten Schützlinge freizukaufen. Joe Cole, bekannt aus der Gangsterserie „Peaky Blinders“ (2013–2022) und dem Gefängnisdrama „A Prayer before Dawn – Das letzte Gebet“ (2017), spielt mit gewinnendem Lächeln ihren Ehemann Jan, der sich dem Widerstand anschließt. Menschen, die Gutes tun, obwohl das Gute den Tod bringen kann.
Man fragt sich jedenfalls, wieso der Schnee im Amsterdamer Winter so leise und friedlich auf die Grachten und die schmalen Amsterdamer Häuschen fallen kann, warum er nicht zornig und laut auf den Asphalt knallt, um die zur Vernuft zu rufen, die tolerieren oder kollaborieren. Und man fragt sich wieder einmal, wie so viel ultimativer Menschenhass und Gewaltbereitschaft heraufziehen konnte wie in Nazideutschland, das viele in den von ihm eroberten Ländern damit „infizierte“.
Das Stream-Team
Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix & Co. – jeden Monat neu.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
„Auch eine gewöhnliche Sekretärin, eine Hausfrau oder ein Teenager kann in einem dunklen Raum ein kleines Licht anzünden“, so pflegte Miep Gies, die 2010 im Alter von 100 Jahren starb, ihre Vorträge vor Schülern zu beschließen. „A small light“ heißt die Serie im Original, was im Deutschen umgangssprachlich einen Menschen mit geringen Geistesgaben bezeichnet und das Publikum auf eine falsche Fährte locken könnte. Deswegen der „Funken“.
Die Räume werden dieser Tage, so scheint es manchmal, wieder dunkler, kleine Lichter werden wieder gebraucht.
„Ein Funken Hoffnung – Anne Franks Helferin“, Miniserie, acht Episoden , von Joan Rater und Tony Phelan, mit Bel Powley, Liev Schreiber, Joe Cole, Billie Boullet, Ashley Brooke, Daniel Donskoy, Eleanor Tomlinson, Jim High (ab 2. Mai bei Disney+)