ESC in Liverpool beginnt: Wie stehen die deutschen Chancen?
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„Wir sind eine Band, die polarisiert und provoziert“: Lord of the Lost mit Frontmann Chris Harms (Mitte) treten mit „Blood & Glitter“ für Deutschland beim Eurovision Song Contest an.
© Quelle: Rolf Vennenbernd/dpa
Stellen wir uns eine eskalierende Party vor: Tänzer im Rausch, Gin Tonic fließt in Strömen, Lichter glitzern, Uhrzeit egal. Nur in einer Ecke sitzt allein ein lahmarschiges Männlein und guckt auf die Uhr. So sah sich Deutschland zuletzt beim Eurovision Song Contest (ESC): abgehängt, spaßuntauglich, vom Rest ignoriert. Man suhlte sich im Elend. Deutschland fährt zum ESC – lasset alle Hoffnung fahren? Nicht in diesem Jahr. Etwas ist anders.
Der ESC in Liverpool beginnt. Wir erinnern uns: Großbritannien sprang ein für die siegreiche Ukraine (Kalush Orchestra mit „Stefania“). Dem Land flogen im Mai 2022 kurz nach dem russischen Angriff die Herzen Europas zu. Nun also landet das ESC-Raumschiff ersatzweise auf geheiligtem Boden im Urschlamm des modernen Pop – in der Heimat der Beatles. Für Deutschland sind die Hamburger Glamrocker von Lord of the Lost (LOTL) am Start. Und dem stabilen Quintett darf man schon mal einen essenziellen ESC-Faktor attestieren, an dem es früheren Gesandten gebrach: Sie fallen auf.
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Opening ceremony for the Eurovision Song Contest 2023 - Arrivals Featuring: Lord Of The Lost, entry for Germany Where: Liverpool, United Kingdom When: 07 May 2023 Credit: Graham Finney/Cover Images PUBLICATIONxNOTxINxUKxFRA Copyright: xx 52693919
© Quelle: IMAGO/Cover-Images
Die Herren um Frontman Chris Harms gehen mit der Brachialballade „Blood & Glitter“ ins Rennen. Vor der großen Sause haben sie – Pflichtprogramm für hiesige ESC-Teilnehmerinnen und ‑Teilnehmer – Lenas Siegertitel „Satellite“ gecovert. Die zarte Akustikversion klingt ein wenig, als sänge der Graf von Unheilig „Still Loving You“ von den Scorpions. Sicher ist: „Keiner mag Deutschland? Das ist Blödsinn. Wenn wir gut sind, dann mag uns Europa.“ Das sagt der Mann, der in diesem Jahr nach 25 Einsätzen als „deutsche Stimme des ESC“ den Staffelstab abgibt: Peter Urban (75). Wichtig sei, sagt er, „ein vernünftiger, ein souveräner Beitrag“.
Ein Hardrock-Papageno mit XXL-Vogelfedern
Und souverän sind LOTL. Mit XXL-Vogelfedern arbeitet sich Chris Harms im roten Latexdress als eine Art Hardrock-Papageno durch eine Performance mit ordentlich Pyrobumms. Ein fernes Echo von Lordi, Rammstein und den italienischen ESC-Helden Maneskin weht durch die Halle. LOTL sind erfahrene Live-Haubitzen und waren auch schon Supportband von Iron Maiden. „Wir sind eine Band, die polarisiert und provoziert“, sagt Harms. „Wir erfahren selten Gleichgültigkeit. Und das finde ich gut und völlig in Ordnung.“
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Haushohe Favoritin: Sängerin Loreen, Eurovisions-Siegerin von 2012 („Euphoria“), schickt sich mit ihrer Elektroballade „Tattoo“ an, Schweden den siebten ESC-Sieg zu verschaffen.
© Quelle: IMAGO/ANP
Haushohe ESC-Favoritin aber ist eine Andere: Die Wiedergängerin Loreen, Siegerin von 2012 („Euphoria“), schickt sich mit ihrer Elektroballade „Tattoo“ an, Schweden den siebten Sieg zu verschaffen. Bei den Wettbüros liegt sie weit vorn. Platz zwei ginge, wenn man den Buchmachern folgt, an den finnischen Metal-Rap-Song „Cha Cha Cha“ von einem der umlautreichsten ESC-Sänger aller Zeiten: Käärijä. Deutschland liegt bei den Prognosen im Mittelfeld. Das ist ungewohnt: Die ganz große Blamage droht nicht.
Und die Ukraine? Gewiss wird sich angesichts des Krieges wieder ein heftiger Sympathiebonus auszahlen. Zum Schutz vor russischen Bomben ging der Vorentscheid in der Kiewer Metrostation Maidan Nesaleschnosti über die Bühne, in 102 Metern Tiefe. Dass das Duo Tvorchi mit seinem Elektrosong „Heart of Steel“ ganz vorne landet, ist aber unwahrscheinlich. Das Finale am 13. Mai läuft live im Ersten und auf One sowie im Netz. Moderatorin ab 20.15 Uhr ist Barbara Schöneberger.
Deutschland ist – wie Spanien, Italien, Frankreich, Gastgeber England und Vorjahressieger Ukraine – für das Finale gesetzt. Neu ist: Erstmals entscheiden in den Halbfinals nur die Zuschauerstimmen – die internationalen Jurys sind ausschließlich am Samstag im Finale im Einsatz. Es ist ein Schuss Demokratie mehr beim ESC.
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Die Kapelle mit der weitesten Anreise: Für Australien tritt beim ESC die Band Voyager an.
© Quelle: IMAGO/Cover-Images
Und die Trash-Fraktion? Wo bleiben die Gummitruthähne, die polnischen Butterstampferinnen, die lebenden Discokugeln, die güldenen Machos vom Mittelmeer? Der Quarkanteil des frischen ESC-Jahrgangs ist gering. Das größte Popspektakel der Welt wird immer professioneller und, nun ja, ernsthafter. Und falls Deutschland doch wieder ganz hinten landet? Dann wünscht sich Harms, dass 2024 wieder Schlagerkanone Ikke Hüftgold ins Rennen geht. Das sollte sich aber – möge der Pophimmel uns gnädig sein – verhindern lassen.