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Highlight der LGBTQ-Community

Warum gilt der „ESC“ eigentlich als Gay Olympics?

Tom Neuwirth hat als Conchita Wurst 2016 den „Eurovision Song Contest“ gewonnen.

Tom Neuwirth hat als Conchita Wurst 2016 den „Eurovision Song Contest“ gewonnen.

Ein Meer von Flaggen weht durch die weiten heiligen Hallen des „Eurovision Song Contests“ (ESC). Eine bunte Wiese voller zitternder Stofffetzen. Eine Flagge aber sticht immer heraus. Keine Nation hat solch begeisterte Anhänger. Und doch ist es keine Landes­flagge – es ist die Regenbogen­flagge. Der „ESC“ wird als Gay Olympics gefeiert, als größtes LGBTQ-Event. Der für Norwegen angetretene Alexander Rybak bezeichnete nach seinem Sieg 2009 in Russland den Wettbewerb als „größte Gay Pride Parade der Welt“.

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Doch seit wann ist das so? Seit Conchita Wurst 2014? Oder seitdem Paul Oscar für Island 1997 eine extrem heteronormative Performance breitbeinig zwischen Lack-und-Leder-dekorierten Tänzerinnen lieferte? Er war immerhin der erste offen schwule Künstler. Tatsächlich aber geht der erste Beitrag über eine homosexuelle Liebe weit weit in die Geschichte des „ESC“ zurück. 1961, nur fünf Jahre nach der Gründung, sang der Franzose Jean-Claude Pascal über eine Beziehung, die von der Öffentlichkeit abgelehnt wurde. „Sie wollen uns trennen, sie wollen uns davon abhalten, glücklich zu sein“, sang er auf Französisch. Oder: „Aber die Zeit wird kommen, und ich werde dich lieben können, ohne dass alle in der Stadt über uns reden werden.“ Später sagte Pascal, dass er dieses Lied über eine homosexuelle Liebe gesungen habe. Die Pronomen seien bewusst nicht explizit männlich oder weiblich gewesen. Pascal outete sich später als homosexuell.

„ESC“ verbot lesbischen Kuss noch 2003

Doch es dauerte noch Jahrzehnte, bis der „ESC“ wirklich offen für die LGBTQ-Community war, sie gar als Aushängeschild umgarnte. Noch 2003, als das Duo T.a.T.u. auf der Bühne regelmäßig mit einem lesbischen Image bei Auftritten spielte, drohte die ausrichtende Eurovision Broadcasting Union (EBU): Wenn sich die beiden Sängerinnen auf der Bühne küssen, würde die Regie auf Aufnahmen der Proben zurück­schalten. Schließlich sei die Veranstaltung, die bis weit nach Mitternacht geht, doch eine Familien­veranstaltung. Burlesque-Auftritte hingegen waren mit familien­freundlichem TV völlig vereinbar.

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Der „ESC“ darf nicht politisch sein. Das steht sogar in den Statuten des Wettbewerbs. Wer gegen die Regeln verstößt, kann disqualifiziert werden. Doch ganz unpolitisch ging es gerade bei den Rechten der LGBTQ-Community nicht zu. Einerseits hatte die EBU selbst einen gleich­geschlechtlichen Kuss 2003 noch verboten. Und zweitens haben gerade heterosexuelle Musikerinnen und Musiker häufiger für Pro-LGBTQ-Statements die Stimmung genutzt. So sang die finnische Sängerin Krista Siegfrids Zeilen, die erst einmal nach einer besonders frauen­feindlichen Version der Ehe klangen: „I’m your slave. You’re my master“ (Ich bin dein Sklave. Du mein Meister). Doch drehte sich die Sängerin am Ende ihrer Performance zu ihrer Tänzerin und küsste sie. Siegfrids zufolge sollte dieser Kuss das finnische Parlament dazu bewegen, die gleich­geschlechtliche Ehe zu legalisieren.

Es ist nicht (nur) der Glitzer

Es könnte jetzt eine lange Liste von queeren und trans Personen im „ESC“ folgen, von Musik machenden bis zu moderierenden. Doch kann solch eine Auflistung nicht die Faszination der LGBTQ-Community erklären. Ebenso wenig wie die Menge an Glitzer und überbordenden Outfits – was auch der Community überhaupt nicht gerecht werden würde.

Vielleicht muss man das Großevent als eben solches sehen: als kommerziell erfolgreiches Großevent – mit einer unglaublichen Sichtbarkeit durch hohe Einschalt­quoten. 161 Millionen Menschen hockten 2022 weltweit beim „ESC“ in Italien vor dem Fernseher. Übertroffen wird der „ESC“ quoten­technisch nur durch Mega­sport­ereignisse wie EM- oder WM-Finalspiele, die 328 Millionen beziehungsweise 1,5 Milliarden Menschen sahen. Somit ist der „Eurovision Song Contest“ eines der wenigen Ereignisse, die ein internationales Lagerfeuer­fernsehen außerhalb des Sports generieren. Und was sieht man im Sport? Vornehmlich Männer, die sich in Leistung messen. Beim „ESC“ hingegen sieht man Männer, Frauen und alles dazwischen. Die Diversität war schon früh durch die vielen verschiedenen Sprachen und Kulturen in den Genen des „ESC“ angelegt. Und je größer der „ESC“ wurde, umso mehr Länder und Kulturen kamen hinzu. Gleichzeitig aber bedient der „ESC“ dieselben Mechaniken wie ein Sportevent. Man kann „sein“ Team anfeuern, Flaggen tragen und grölend im Schweiß der Menge stehen, um sich dann für das nächste Bier durch die Reihen quetschen zu müssen.

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Dann kam die Diva

Der „ESC“ stand in den 90er-Jahren bereits für aufwendige Bühnen­shows, Glitzer und Glamour – doch das Jahr 1998 war eine Zäsur für die Sichtbarkeit der LGBTQ-Gemeinschaft. Für den Kontext: Im deutschen Fernsehen beispielsweise war in den 1990er-Jahren die Sichtbarkeit von Homosexualität oder trans Personen eher eine Seltenheit. Die „Lindenstraße“ übernahm mit dem ersten homosexuellen Kuss im deutschen Fernsehen eine Vorreiterrolle, doch andere Formate waren rar gesät. Sexualität außerhalb der heterosexuellen Norm waren kein Teil des Mainstreams. Aber dann trat Dana International beim „ESC“ auf, im langen glitzernden Abendkleid, mit perfekten Locken, mit perfektionierten dramatischen Gesten. Sie war nicht Randfigur, nicht nur nebenher erwähnt. Sie war der Star der Abend auf einer internationalen Bühne und ihr Eurodance-Lied „Viva la Vida“ gewann – trotz der Proteste der jüdisch-orthodoxen Gemeinden in Israel. Dana International sagte dem „Guardian“ Jahre später: „Den Leuten ist meine Stimme egal. Es ist ihnen wichtig, dass ich meine Meinung ohne Angst sage. Sie sagen, ich sei so mutig, bla bla bla. Ich lebe einfach mein Leben, und es ist kein einfaches Leben.“ Ihr Sieg wurde so zu einem Statement für die LGTBQ-Gemeinschaft.

Und nach ihr folgten weitere, beispielsweise 2007 Verka Serduchka als Drag Queen mit Diskokugel-Stern-Perücke auf dem zweiten Platz. 2013 führte Russland ein Gesetz über „homosexuelle Propaganda“ ein. 2014 gewann Conchita Wurst als Frau mit Bart und ihrem Song „Rise Like a Phoenix“. Eine Kunstfigur, die weder Frau noch Mann ist. Die keine klassische Drag Queen ist. Eine Figur, die männliche wie weibliche Attribute vereint. Kritikern aus Russland sagte Conchita Wurst vor dem Wettbewerb noch: „Danke für die Aufmerksamkeit.“

Inzwischen ist es 2023 – und gleich mehrere Künstlerinnen und Künstler kommen aus der LGBTQ-Community. Manche nennen den „Eurovision Song Contest“ auch liebevoll die Gay Olympics.

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