Das Königreich war erschüttert

„Jimmy Savile – eine britische Horrorstory“ – Netflix-Doku über Missbrauchsskandal

Britannias Darling: Jimmy Saviles Stern stieg auf, als die Beatles und die Rolling Stones die Welt eroberten. Hinter dem Wohltäter und der exzentrischen TV-Persönlichkeit steckte ein Gewalttäter. Szene aus der zweiteiligen Netflix-Doku „Jimmy Savile – eine britische Horrorstory“.

Britannias Darling: Jimmy Saviles Stern stieg auf, als die Beatles und die Rolling Stones die Welt eroberten. Hinter dem Wohltäter und der exzentrischen TV-Persönlichkeit steckte ein Gewalttäter. Szene aus der zweiteiligen Netflix-Doku „Jimmy Savile – eine britische Horrorstory“.

Der Fernsehstar Jimmy Savile ist umringt von jungen Frauen, als er in die Fernsehkamera spricht. Zwei von Dreien himmeln ihn an, die Dritte aber versucht immer wieder Ausweichbewegungen, will sichtbar etwas loswerden, dabei aber auch das für eine Familienunterhaltungsshow zwingende „Strahlen“ beibehalten. Ihr Blick ist der gespielter Empörung – aber man merkt, wie unwohl sie sich fühlt. Eine Gefangene der Situation – während Savile den TV-Kasper macht, befindet sich seine rechte Hand, für die Kamera unsichtbar, ganz offensichtlich irgendwo an der jungen Frau.

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Als die knapp dreistündige Netflix-Doku „Jimmy Savile – eine britische Horrorstory“ vorbei ist, atmet man tief durch und wünscht dem semmelblonden Mann mit den kalten Augen und dem Pferdegrinsen einen #metoo-Prozess à la Harvey Weinstein. Was leider unmöglich ist. Erst nach seinem Tod zwei Tage vor seinem 85. Geburtstag (beerdigt wurde er in einem goldlackierten Sarg) war der Savile-Bann der Briten gebrochen, wurden die Geschichten der Missbrauchsopfer laut. Was jeder über die Jahrzehnte seiner Karriere hinweg hätte hören können, wurde endlich auch gehört – und geglaubt.

Jimmy Savile – ein Popstar in eigenem Recht

Jimmy Savile? Man muss sich hierzulande ein wenig für die mediale Geschichte der Popmusik interessieren, um den 1926 in Leeds geborenen Discjockey, Radsportler, Wrestler einordnen zu können, der in Kriegsjahren als Teenager im Bergwerk gearbeitet hatte. Savile war vom Start weg Moderator bei „Top of the Pops“, der legendären britischen TV-Popshow. Und die Bilder der Netflix-Doku zeigen ihn Mitte der Sechzigerjahre als eine Art Hofnarr der Rolling Stones und umringt von den Beatles.

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Savile erscheint da als Popstar in eigenem Recht, den die Mädels anhimmelten, als wäre er der „fifth fab“ neben John, Paul, George und Ringo. Apologeten sagten später, dass die jungen Frauen, die seinem Druck zur sofortigen Befriedigung seiner sexuellen Vorstellungen nachgegeben hatten, doch wohl Groupies gewesen seien, spezielle Fans, die in den großen Tagen von Jim Morrison und Jimi Hendrix darauf aus waren, mit Popstars das Lager zu teilen. Eine von den zahllosen Lügen im Zusammenhang mit männlicher Gewalt gegenüber Frauen.

Der Fernsehmann inszenierte sich als Inbegriff des Guten

Die Netflix-Doku von Regisseurin Rowan Deacon folgt der Lebensgeschichte Saviles. Die ersten 80 Minuten lang ist fast nur der Beititel „Eine britische Horrorstory“ Hinweis darauf, dass noch irgendetwas kommen muss in der glanzvollen Vita, das das Bild vom Wohltäter, vom Günstling der Premierministerin Margaret Thatcher, vom Freund und Ratgeber von Prinz Charles eintrübt.

Opfer mit Schuldgefühlen: Sam Brown erzählt in der Doku „Jimmy Savile – eine britische Horror-Story“, wie der Missbrauch durch den TV-Star ihr Leben zerstörte.

Opfer mit Schuldgefühlen: Sam Brown erzählt in der Doku „Jimmy Savile – eine britische Horror-Story“, wie der Missbrauch durch den TV-Star ihr Leben zerstörte.

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Man wird Zeuge, wie ein nicht sonderlich aparter, indes recht wortgewandter Mann, der bei fast allen Gelegenheiten in bunter, kunstseidener Sportgarderobe auftritt, von Briten aller Generationen für jedes Augenzwinkern und jede Silbe lauthals bejubelt wird. Er macht Sendungen für Kinder, er startet Sammelaktionen für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, er rettet Institutionen und wird zur Marke des Guten im United Kingdom.

Der Sextäter gibt Hinweise – die werden im TV weggelacht

Zweideutige Bemerkungen vor der Kamera werden dabei goutiert, wie das damals halt so war, als Mann seine Begeisterung für Frau noch durch schrille Pfiffe äußerte und ein Klaps auf den Po von den Klapsköpfen noch als Kavaliersdelikt verortet wurde. Man hört Savile zu, wenn er schlüpfrig wird vor der Kamera im doch so prüden Kingdom. Aber noch mehr ziehen einen dabei die Moderatoren in Bann, die dem großen Jimmy nicht nur alles durchgehen lassen, sondern alles, was im Licht der späteren Enthüllungen als dezente Selbstbezichtigung gesehen werden kann, kleinlachen und schönkichern. Alle spielen mit. Warum? Weil kein Feingefühl vorhanden ist? Keine Empathie? Weil man selbst gern ein Hansdampf in allen Schlüpfern wäre?

Und so langsam schält sich ein Ungeheuer aus dem medialen Supermann, ein unheimliches Wesen, das nichts von sich preisgibt, sich ob seiner Verdienste und seines Bekanntheitsgrads mehr und mehr für unantastbar hält. In einem lancierten Zeitungsartikel, mit dem er auch seine „Schattenseiten“ kontrollieren will, nennt Savile sich selbst „den Paten“. Und dieses Machtbewusstsein ähnelt durchaus dem von Mario Puzos und Francis Ford Coppolas Mafiaboss. Wenngleich Don Vito Corleone nie eingefallen wäre, 14-jährige Schulmädchen zu betatschen und zu vergewaltigen.

Hilfe war in der patriarchalischen Gesellschaft nicht zu erwarten

Über 400 Anschuldigungen gab es gegen Savile. Spät in diesem Zweiteiler, den Netflix etwas großspurig als Miniserie bezeichnet, lässt Deacon dessen Opfer zu Wort kommen. Die stockende Erzählung einer blonden Frau macht das Ausmaß der Gewalt deutlich: Die Scham über den erzwungenen Sex (der nie Sex ist, sondern Gewalt und damit Verbrechen) fiel auf die Seite derjenigen, der Unrecht angetan wurde.

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Deutlich wird die Ausweglosigkeit des Hilfesuchenden in einer Gesellschaft, die von männlicher Sexualität geprägt ist und die den weiblichen Opfern männlicher sexueller Gewalt die Schuld an dieser in die Schuhe schiebt. Ängste vor anderen Menschen, vor Bindung und einer normalen, befreiten Sexualität, Selbstbezichtigung und Selbsthass werden als Folgen sichtbar. Die Augenblickslust des einen Menschen wird zur Lebenskatastrophe des anderen. Erst das Erzählendürfen wirkt befreiend, auch wenn die Verletzungen nie vergessen werden können.

Am Ende steht man fassungslos vor einem Mann, dem allseits gestattet wurde, „Beute“ zu machen, der zu seiner Absicherung Allianzen mit Politikern und Polizei schloss, bei dem alle wegsahen und weghörten, der Kinder und Jugendliche, aber auch hilflose Erwachsene, Kranke und Behinderte in den Anstalten, für die er Geld sammelte und auch überall sonst, wo es möglich war, missbrauchte. Und noch fassungsloser sieht man den Kollegen von einst zu, die bedröppelt in die Kamera blicken, als seien ihnen gerade Schuppen von den Augen gefallen.

Ein paar scharfe Fragen hätten es schon sein dürfen

Was der Doku indes fehlt, sind die Tiefe und die Schärfe. Aufgewühlt bleibt man zurück, dafür sorgt die Methode (nicht nur) der Netflix-Dokus, erzählerische Spannung aufzubauen und diese mit Drama-Muzak aufzupowern. Wollte man in die psychologischen Tiefen des Bösen vordringen, wollte man die Ursachen des kollektiven Ausblendens ausloten, hätte es ein wenig mehr an Filmlänge und Aufwand bedurft. Die Regisseurin hätte ihre Finger durchaus tiefer drücken können in die Wunden des persönlichen Versagens, hätte diejenigen, die das System und das Biest mittrugen, mit harten Fragen zu bösen Antworten bringen können. So bleibt die Savile-Doku in ihrer Unfertigkeit nicht frei vom Verdacht der Sensationslust – eine „britische Horrorstory“ mit einem Sozialvampir, der hübsch „creepy“ erscheint.

„Jimmy Savile – eine britische Horrostory“, Doku, zwei Episoden, Regie: Rowan Deacon (bei Netflix)

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