Sherlock Holmes unter Rittern und Mönchen: Mittelalter-Crimedy „Melchior, der Apotheker“ startet
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/XHLV7E34WVCBPCPOEXSSO7TGDA.jpg)
Ihm flüstern tote Menschen Hinweise auf die Art ihres Ablebens: Melchior (Märten Metsaviir, vorne) kennt sich nicht nur mit Arzneien aus. Szene aus der estnischen Serie „Melchior, Der Apotheker“.
© Quelle: Robert Lang
Apotheker suchen normalerweise keine Mörder. Dieser hier aber schon. Der Ordensritter Clingenstain, per Schiff frisch eingetroffen in der estnischen Hauptstadt Tallinn (die eigentlich bis ins 20. Jahrhundert hinein Reval hieß), ist enthauptet worden. Im Mund seines an die Wand genagelten Kopfes finden sich Münzen, gotländische Öre. Eine wertvolle Goldkette, die der Vater der schönen Hedwig dem Ritter verkauft hat, ist zudem verschwunden.
Melchior muss den Mörder finden, sonst ist Schluss mit Romantik
Findet Melchior Wakenstede (Märten Metsaviir) den wahren Übeltäter nicht, so soll, das befiehlt der verschlagene Komtur Wentzel (Alo Kõrve), sein der Tat verdächtiger Gehilfe Kilian (Franz Malmsten Jr.) des Todes sein. Der aparte Geliebte der Goldschmiedtochter Hedwig (Henessi Schmidt) darf aber schon allein nach den Gesetzen der Romantik nicht sterben, weil sonst Hedwigs Zwangsverheiratung droht. Und die Schöne will partout nicht an den deutlich älteren Meister Freisinck „vergeben“ werden.
„Melchior, der Apotheker“, Held einer Serie nach den Romanen des estnischen Schriftstellers Indrek Hargla, hat sich um den Job des Detektivs nicht gerissen. Der Gerichtsherr der Stadt hat ihn per angedeutetem Schwertschlag zum Hilfsvogt ernannt und er ist schon mal besser im Schlüsseziehen als sein Chef. Ein weiterer Mord passiert – Vorsicht, Spoiler! –, der Baumeister, der sich an einer widerborstigen Kirchwand abarbeitet, wird ebenfalls geköpft und dann kommt im Kloster auch noch ein Mönch durch Arsen ums Leben. Natürlich hängt alles zusammen. Nur wie? Und was hat es mit dem ominösen „Gefangenen von Tallinn“ auf sich?
Das Mittelalter sieht aus, als hätte Meister Proper sauber gemacht
Das erinnert an Umberto Eco, der seinen ersten Roman „Der Name der Rose“ schrieb, weil er einen Mönch vergiften wollte. In „Melchior, der Apotheker“ ist niemand, was er scheint und der bucklige Klosterbruder, der als Vierter stirbt, ist in Wahrheit ein flüchtiger Seeräuber, der noch eine Rechnung mit Ritter Clingenstain offen hatte.
Das Mittelalter des frühen 15. Jahrhunderts, wie es die am 5. Mai bei Magenta TV startende Historienserie zeigt, hat etwas allzu Aufgeräumtes. Zwar ist hier mal ein bisschen Flugrost an einem Menschenkäfig und ein Burgfenster weist den grünlichen Schimmer von Vermoosung auf, insgesamt aber wirkt alles so herausgeputzt, als gäb‘s schon Kanalisation und sei vor Drehbeginn noch mal schnell Meister Proper durchgezogen.
Die Rüstung des todgeweihten Clingenstain sieht aus wie frisch aus der Blechbüchsenfabrik. Und obzwar gleich zu Serienbeginn eine Ratte über Melchiors Arbeitsbank krabbelt, ist sein Lädchen mit den kostbaren Interieurs, den Flaschen, Schalen, Töpfen und Tiegeln wie aus dem Ei gepellt. Das Design sieht ein bisschen zu fabrikneu aus, wodurch ein Gefühl von billig entsteht.
Mit Melchior ermittelt ein Magic Sherlock
Macht nichts. Denn „Melchior“ will erst gar kein großes historisches Spektakel sein, sondern eine Mittelalter-Crimedy. Nicht so überzogen wie Netflix‘ Wikingerjux „Norsemen“, der auch Schwachstellen in der Mittelalteroptik hatte, sich aber mit seiner verbrämten Gegenwartssprache als höchst vergnüglicher Klamauk erwies. „Melchior“ ist leiser, die karikatureske Überzeichnung der Figuren ist dezenter. Sie liefern dem Betrachter keine Brüller, sondern allenfalls ein amüsiertes Grinsen.
Der Clou der Abenteuer des pharmakologisch auf der Höhe seiner Zeit befindlichen Protagonisten ist, dass er mit Toten kommunizieren kann und von ihnen postum Hinweise bekommt. Der estnische Science-Fiction- und Horror-Schriftsteller Hargla hat eine Art Magic Sherlock erschaffen. Dass der allerdings nicht auf den ersten Blick sieht, dass sich hinter dem neuen Lehrling eine junge Frau (Maarja Johanna Mägi) verbirgt, ist ein Blind-für-das-Offensichtliche-Kniff, der einem schon in uralten Hollywoodfilmen völlig unplausibel erschien.
Das Stream-Team
Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix & Co. – jeden Monat neu.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Und dass Melchior sich auch mit ein wenig Huschhusch in alle verbotenen Winkel einschleichen kann, liegt nicht etwa an zauberischer Tarngarderobe oder einem Ablenkungssimsalabim, sondern daran, dass sich alle Wachleute im rechten Moment abwenden. Mal das Personal zurechtrüffeln, verehrter Herr Komtur!
Ein Apotheker verpasst heilsame Denkzettel
Nur zwei von sechs Folgen wurden zur Ansicht gewährt – sie ergeben denn auch schon einen ganzen Fall, den des einzigen bislang ins Deutsche übersetzten Buches der Reihe - „Apotheker Melchior und das Geheimnis der Olaikirche“. Die sechs Folgen setzen sich aus drei halbierten Kinofilmen zusammen, die in estnischen Lichtspielhäusern zu sehen waren, danach durch die Festivalszene tourten und schließlich zur Serie umformatiert im Streaming landeten. Am Ende der zweiten Folge ist ein unterhaltsames Behelfskriminalerteam aufgestellt, das im weiteren Verlauf Übeltäter der gerechten Strafe zuführen könnte.
Das Recht war in jenen Zeiten nicht unbedingt billig. Der Autorität, die es hier nach Gutdünken verbiegt, verpasst Melchior einen heilsamen Denkzettel. Da ist der Apotheker schon fast wieder bei seiner Kernkompetenz.
„Melchior, der Apotheker“, sechs Episoden, mit Märten Metsaviir, Alo Körve, Maatja Johanna Mägi, Henessi Schmidt, Marko Matvere. Ken Rüüsel (ab 5. Mai bei Magenta TV)