Erschütterndes Weltkriegsdrama

Netflix-Drama „Schatten in meinen Augen“ – Blick bis unter die Trümmer

Der nächste Irrtum wird viele Kinder das Leben kosten: Die englischen Piloten wollen das Hauptquartier der Gestapo in Kopenhagen bombardieren. Szene aus dem Netflix-Film „Schatten in meinen Augen“.

Der nächste Irrtum wird viele Kinder das Leben kosten: Die englischen Piloten wollen das Hauptquartier der Gestapo in Kopenhagen bombardieren. Szene aus dem Netflix-Film „Schatten in meinen Augen“.

Das Fahrrad stürzt um. Alle Eier, eben noch weich gebettet im Stroh eines Korbs, zerbrechen auf dem Feldweg. Metapher für das, was in dem kleinen Jungen zerbricht, der das Rad gefahren hat. Er hat gerade in ein brennendes Auto voller toter Menschen geblickt – eine Hochzeitsgesellschaft mit drei jungen Frauen und einem Fahrer, die noch vor wenigen Minuten aufgeregt und fröhlich der Feier entgegenfuhr.

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Ärzte glaubten, ein Trauma wegbrüllen zu können

Henry (Bertram Bisgaard Enevoldsen) ist traumatisiert, und 1945 glaubten noch viele Ärzte, Traumata einfach so wegbrüllen zu können, mit „Reiß dich zusammen!“ und ein paar Beleidigungen in Richtung Mannesehre. Dann bringt die Mutter (Maria Rossing) ihren Sohn nach Kopenhagen, wo er in Gesellschaft seiner Cousine Rigmor (Ester Birch) und Verwandten „aufwachen“ soll. Eine kleine Kriegstragödie, verursacht durch die Fehleinschätzung einer englischen Flugzeugbesatzung, die glaubte, in dem schwarzen Wagen säße ein hoher SS-Offizier. Eine Tragödie, der eine weit größere folgen soll.

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Der dänische Regisseur Ole Bornedal, dessen Kinokarriere 1997 mit dem Thriller „Nachtwache“ begann, führt uns in die Endzeit des Dritten Reichs. Die britische Luftwaffe plant, nach dem erfolgreichen Angriff auf das Gestapohauptquartier in Aarhus auch die Zentrale in Kopenhagen in Schutt und Asche zu legen. Die Nazis ebendort haben das erwartet und benutzen inhaftierte Widerstandskämpfer als Schutzschild.

Ein zynisches Wetten auf den Humanismus der Kriegsgegner. Sind sie so skrupellos wie man selbst? Wir sehen üble Hitlerschergen, die ihre Folteropfer mit Anlauf auspeitschen. Die auf der Straße Menschen zusammentreten und per Kopfschuss hinrichten. Die üblichen Mittel eines Autors (Bornedal hat auch das Drehbuch verfasst), die Grausamkeit des Unrechtsregimes zu illustrieren.

Der Henkersbüttel und die Nonne

In dieser Welt stellt uns Bornedal Figuren vor, die er im Lauf seines Films miteinander verbindet. Wir lernen einen dänischen Nazikollaborateur kennen, dessen schwarze Uniform den Abscheu seines Vaters erweckt, und der weiß, dass die Sache Hitlers verloren ist. Dennoch steht er Gewehr bei Fuß, wenn die Gestapo ihre Henkersarbeit verrichtet.

Eines Tages begegnet dieser Frederik (gespielt von Alex Hogh Andersen, der schon als Wikinger Ivar, der Knochenlose, in „Vikings“ ein Hingucker war) einer Nonne (Fanny Bornedal, Tochter von Ole Bornedal). Die madonnenhafte junge Frau sagt ihm auf den Kopf zu, wer er ist und was er tut. Sie entwendet ihm seine Pistole. Sie küsst ihn auf den Mund – die Gottesbraut den Büttel des Führers.

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Eine Ordensschwester auf der Suche nach Gott

Schwester Teresa ist auf der Suche nach Gott und kann ihn nicht finden in der verheerten, auf dem Kopf stehenden Welt ihrer Zeit. Als sie in der Schule, in der auch Henry, Rigmor und ihre Freundin Eva (Ella Josephine Lund Nilsson) Schüler und Schülerin sind, kurz den Unterricht übernehmen soll, erklärt sie den Kindern, dass auch Gott ab und an mal Pause macht.

Dass ihm auch mal ein Bleistift runterfällt, wodurch er unaufmerksam werde für die Dinge, die derweil auf seiner Welt passieren. Und dass während eines solchen kurzen Moments in Gottes Alltag auf der Erde viel mehr Zeit vergeht. Sie lässt die Klasse Bleistifte auf den Boden werfen. Anschaulicher Unterricht. Später wird sie von einem ertrinkenden Kind in der zu Schutt bombardierten Schule gefragt werden, eingezwängt in geborstenes Gestein, ob Gott jetzt einen Bleistift habe fallen lassen.

Die Flieger bombardieren eine Schule statt der Gestapo

Das Kleine wiederholt sich im Großen. Das Flugzeug, das zu Beginn die Brautjungfern getötet hat, stürzt in einem Straßenzug Kopenhagens ab, die aufsteigende Rauchsäule lenkt einige Flieger vom eigentlichen Ziel ab und so schicken sie ihre Bomben statt ins Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei in die Schule, wo die Kinder gerade ein biblisches Stück proben, das – gewollt oder nicht – eine Parabel auf die NS-Besetzung Dänemarks ist. Kameramann Lasse Frank Johannessen schafft Bilder von Kinogröße, Bilder, die der Betrachter nicht mehr so schnell loswerden wird.

Es ist ein Film, der auf wahren Begebenheiten beruht (in der Jeanne-D‘Arc-Schule starben bei der Operation Carthage am 21. März 1945 93 Schülerinnen und Schüler und 16 Erwachsene) und der Krieg zeigt, wie er ist, wenn er die Fronten verlässt und die Heimstätten der Menschen einbezieht. Der tief in die Trümmer hinabsteigt zu den Schwerverletzten und ihren letzten Lebensmomenten, dorthin, wo in den Kriegen der Wirklichkeit meist keine Kamera hingelangen kann, was in den Nachrichten zu der relativierenden Angabe „unüberprüfbar“ führt.

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Damals waren – wenn man in den religiösen Begriffen bleibt – die Alliierten darauf aus, einen Teufel in Menschengestalt, Hitler, zu besiegen und danach eine neue, bessere Weltordnung herzustellen.

Die Parallelen zu Putins Krieg sind offenkundig

Heute ist der in Europa überlebt geglaubte Typus des Diktators in Gestalt des russischen Präsidenten Putin dabei, eine Weltunordnung zu maximieren, indem er mutwillig Krankenhäuser, Altenheime, Schulen bombardieren lässt. Aus dem Leid von heute, so vermutlich seine Rechnung, erwachsen Flüchtlingsströme, Hungersnöte und in der Folge eine neuerliche Destabilisierung Europas wie durch seine Syrienbombardements vor wenigen Jahren. Die Rache Putins am Westen für die untergegangene Sowjetunion, die seiner Meinung nach „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, ist der Versuch der Zerstörung des Westens, wie wir ihn kannten. Sie wird nicht ganz aufgehen, diese Rechnung.

Der Unterschied: Die Bombardierung der Schule von Kopenhagen war ein furchtbares Versehen, ein Unglück. Die Bombardierung der Zivilgesellschaft in der Ukraine ist Kalkül. Ole Bornedals bislang bester Film zeigt uns auf erschütternde, kaum auszuhaltende Weise, was Krieg für die bedeutet, die ihm ausgesetzt sind, was passiert, wenn die Waffen der Distanz in den Häusern der Wehrlosen einschlagen. Es ist die Macht der Fiktion, uns zuvor mit den Opfern vertraut zu machen, so dass wir umso mehr mit ihnen mitfühlen. Obzwar Bornedal nicht wissen konnte, was zum Start seines Films in Europa geschehen wird, vollzieht Zuschauers Kopf die Transferleistung auf all die Unschuldigen in der Ukraine sofort.

Am Ende des Films steht ein optimistisches Bild des Überlebens. Aber auch dieses Bild ist nur eine Momentaufnahme. Schon der Erste Weltkrieg sollte ja der Krieg sein, mit dem alle Kriege enden.

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„Schatten in meinen Augen“, Film, 107 Minuten, Regie: Ole Bornedal, mit Fanny Bornedal, Alex Hogh Andersen, Danica Curcic, Bertram Bisgaard Enevoldsen (streambar bei Netflix)

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