Heugabel statt Laptop: Schweizer Netflix-Heimatserie „Neumatt“ über Rückkehr des verlorenen Sohns
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Liegt seine Zukunft in der Vergangenheit? Ein Schicksalsschlag führt Michael Wyss (Julian Koechlin) auf den elterlichen Hof zurück. Szene aus der Serie „Neumatt“.
© Quelle: Netflix/SRF1
Hat man der Familie erst mal den Rücken gekehrt, wird sie schnell als lästig empfunden. Der Schweizer Bauernsohn Michael (Julian Koechlin), den die Kollegen Mick nennen, ist inzwischen Consultant für Unternehmen in Schieflage, er ist gut in seinem Job, den er lebt, neben dem wenig anderes auch nur einen Katzenplatz bekommt. Einer, dem die Welt gehört, dem der kleine Hof der Eltern stinkt, weshalb er seine Herkunft ebenso verschweigt wie sein Schwulsein, und weshalb er sich auch kaum noch auf der „Neumatt“ blicken lässt.
Mick ist der beste Consultant auf dem Bullenrücken
Dass er mit Landwirtschaft zu tun hat, könnten die Kollegen allenfalls ahnen, weil Mick es bei der Betriebsfeier bei Weitem am längsten auf dem elektrischen Stier aushält. Obwohl man sich kaum vorstellen kann, dass Rodeo in der Schweiz so angesagt ist wie im Wyoming etwa der neulich gestarteten Amazon-Serie „Outer Range“. Auf dem Buckel eines echten Stiers, das wissen deren Fans, hätte es Mick nie im Leben 1 Minute 43 Sekunden geschafft.
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So ist Mick knapp an Worten, als ihn am Abend des lustigen Bullenreitens der Vater anruft und ihm den Auftrag erteilt, er möge dem Bruder Lorenz doch beim Ausbessern des Scheunendachs zur Hand gehen. „Weißt du, was ich in der Stunde verdiene?“, erwidert der Sohn allzu selbstherrlich. „Ich schick dir fünf Handwerker. Sonst noch was?“ Und schon ist das Gespräch, das keins war, beendet.
Der Bauer ist tot – es lebe die Lüge
Ganz seltsam ist der Vater, Bauer Kurt (Paul Kaiser), an diesem Abend auch sonst. Er hilft Lorenz (Jérome Humm) nicht, als ein Kälbchen zur Welt gebracht werden muss, sondern beobachtet hinter einem Balken, ob der Sohn mit dem Kälberstrick allein zurechtkommt. Und er sagt seiner Frau Katharina (Rachel Braunschweig) vorm Zubettgehen „Danke“, was die verwundert.
Später wird man all diese Szenen noch einmal „aufgeklappt“ und mit wichtigem Mehrinhalt sehen. Am Morgen hat Kurt sich in der Scheune aufgehängt. Der Sohn Lorenz entdeckt ihn, die Mutter nimmt den Leichnam ab und flößt ihrem Jüngsten ein, der Vater sei von der Stallleiter gestürzt. Eine wichtige Lüge für die Versicherung. Sie verbrennt den Galgenstrick.
Zurück in die Welt, wo Mick noch Michi ist
Denn der Hof ist verschuldet. Ob die Geldsorgen den alten Wyss in den Tod getrieben haben, bleibt zunächst offen. Oder wusste er vielleicht vom regelmäßigen Wohnwagensex seiner Frau mit einem Liebhaber? Oder hat ihn einfach die nie endende Kleinbauernfron lebensmüde gemacht? Jedenfalls kommt der gelackte Unternehmensberater Mick, der gerade dabei ist, den größten Milchverarbeitungsbetrieb der Schweiz zu retten, zur Beerdigung auf den Hof zurück.
Ins Kleine, dessen Menschen ihm aus der Ferne nur noch verschwommen und vage erschienen. Hier stellen sie sich wieder scharf, nennen sie ihn noch Michi wie damals im Fußballverein.
Figuren wie aus dem Musterkatalog „Familiendrama“
Eine ganze Riege von Figuren wie aus dem Musterkatalog „Familiendrama“ fährt Serienschöpferin Marianne Wendt in der Serie „Neumatt“ auf, die Netflix vom Schweizer Fernsehen (SRF 1) übernommen hat. Da ist Michis immer noch schöne, promiskuitive Mutter, die zur Lüge greift, wenn es ihr opportun erscheint, und diesen träumerisch-enttäuschten „Ein anderes Leben wäre besser gewesen“-Blick draufhat.
Da ist Sarah (Sophie Hutter), so frisiert und so tough wie Naomi Nagata im Weltraumthriller „The Expanse“, die sich gelegentlich in der Besenkammer missbrauchen lässt, um ihr Fitnessstudio über Wasser halten zu können, und die mit der Familiendrama-üblichen aufsässigen Teenietochter (Anouk Petri) geschlagen ist. Und da ist Lorenz, der Jüngste, der ein perfekter Bauer wäre, ob seines schlichten Gemüts aber schon zweimal durch die Abschlussprüfung gerasselt ist, und der die Lüge hasst.
Die Gattin von Mamas Lover (Judith Hofmann) ist „Gemeindepräsidentin“. Sie erscheint kaltlächelnd zum Leichenschmaus mit einem Dreimillionen-Franken-Angebot. Der Hof würde dem Erdboden gleichgemacht, ein Paketverteilzentrum samt Riesenparkplatz würde entstehen. Das würde auch Sarah mit einem Schlag von aller Bedrängnis freimachen. Aber Lorenz will nicht: „Das ist mein Hof!“ schreit er. Und da ist noch Trudi Wyss (Marlise Fischer), die resolute Oma, die in keinem Familiendrama fehlen darf, und die jeden Zentimeter von dem Grund verteidigen will, auf dem die Wyssens seit Ewigkeiten leben.
Michi soll die Sache richten – das ist die klassische Story des Heimatfilms des Subgenres „Zurück zu den Wurzeln“. Wird er allen gerecht werden? Die Geschichte von „Neumatt“ wird langsam erzählt, und es sind die Schauspieler und die fesselnden Dialoge (Tipp: auf Schwyzerdütsch mit Untertiteln sichten!), die das Sittenbild/Land über die „Forsthaus Falkenau“-Klasse erheben.
Das Heu-Einholen erwärmt das Publikum für den Helden
Julian Koechlin will freilich erobert werden, erst mal mag man diesen Lackaffen mit dem Faible für Lebenslügen nicht, auch wenn er als Michi optisch an Richard Madden erinnert (den Publikumsliebling Robb Stark aus „Game of Thrones“). Erst als er die ersten Schritte zur Wiedereingliederung ins Ländliche tut, kommt er unserem Gerechtigkeitsempfinden nach. Als er dabei ist, wenn alle weglaufen von der Trauerfeier, weil „der Lorenz das Heu noch draußen“ hat, wo sich doch über den Feldern des Zürcher Oberlands alle Wolken zum Wolkenbruch versammeln. Heugabel statt Laptop – das steht auch Michis Kollegen Joel (Benito Bause) gut.
In der dritten von sechs Episoden platzt eine Wahrheit wie eine Bombe ins Dorf, und ab dann nimmt die Serie über Tradition und Aufbruch Tempo auf, um auch die zögerlichen Anhänger des Hochgeschwindigkeitsfernsehens mitzunehmen. Auf der „Neumatt“ gibt es jetzt Thrill zuhauf, fühlt es sich zuweilen an, als säße man selbst auf dem elektrischen Stier. Wenn am Ende die Traktoren schweigen, hätte man gern mehr davon. Die zweite Staffel wird derzeit gedreht.
„Neumatt“, erste Staffel, acht Episoden, von Marianne Wendt, mit Julian Koechlin, Rachel Braunschweig, Benito Bause, Jérome Humm, Sophie Hutter (streambar bei Netflix)
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