„Tutti Frutti“-Start vor 25 Jahren

Die Nackten und die Quoten

„Als ob man ein Steak in den Zwinger wirft“: Hugo Egon Balder (M.).

„Als ob man ein Steak in den Zwinger wirft“: Hugo Egon Balder (M.).

Hannover. Das Jahr 1991 hatte etwas Verwirrendes. Boris Jelzin stand schwankend auf einem Moskauer Panzer, Maradona wurde als dicklicher Kokser entlarvt, und Liz Taylor heiratete einen Bauarbeiter. Spätestens da war klar, dass Glamour auch nicht mehr das war, was er einst zu sein versprach. Klebriger Trash begann das öffentliche Leben zu durchsuppen wie ein pinkfarbenes Virus, das nach Hubba Bubba schmeckt.

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Am Tag, an dem im deutschen Fernsehen offiziell der Untergang des Abendlandes begann, hatte einer richtig Spaß: Dieser Mann war ein fundamentalistischer Prediger namens Helmut Thoma, und seine Religion hieß: Erregung öffentlichen Ärgernisses. „,Tutti Frutti‘ war damals, als ob man ein Steak in den Zwinger wirft“, erinnert sich der RTL-Gründer. „Zack - alle stürzten sich drauf und jagten die Quoten hoch.“

Sendung schlug ein wie eine Bombe

Der schmerzfreie Thoma („Im Seichten kann man nicht ertrinken“) hatte die Rechte an einer italienischen Sexshow namens „Colpo Grosso“ - etwa: „Das große Ding“ - gekauft, bei der sich Stripperinnen und unbescholtene Nachbarsleute von wechselnder Attraktivität nach einem nebulösen Punktesystem entblößten. Und so dirigierte jetzt in der verlotterten Originalkulisse in einem Vorortstudio in Mailand, in dem britzelnde Stromkabel lose von der Decke baumelten, ein nicht minder britzelnder Macho namens Hugo Egon Balder - der bürgerlich Egon Hugo Balder heißt - eine Art tanzenden Marktstand: Erdbeere, Zitrone, Mandarine, Blaubeere. Im Vorspann von „Tutti Frutti“ bildeten die acht Models des „Cin Cin“-Balletts eine Halfpipe aus Hintern, dann nötigte Balder eine Hausfrau und Mutter aus Euskirchen, sich zu „Miami Vice“-Musik aus ihrer schultergepolsterten Oberbekleidung zu schälen. Zwischendurch hielt die 18-jährige Monique Sluyter - eine zur Provinz-Marilyn hochgerüstete Ex-„Miss Friesland“ - ihre Brüste in die Kamera, und dann war eh alles egal.

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Balders frugaler Obstsalat schlug ein wie eine Bombe. Derart schwachsinniges Fernsehen hatte es bisher noch nicht gegeben - allerdings aus gutem Grund. Nervös nestelten fortan löwenmähnige Sachbearbeiterinnen in senfgelben Blousons plus ein Quotenmann pro Show - gern todesmutig im Tigertanga - an hakeligen Reißverschlüssen, um sich sodann teilbefreit (der Slip blieb in der deutschen Fassung an) in ungelenkem Gliederschmeißen zu ergehen. Das war so erotisch wie eine Wurzelfüllung. Aber es gab ja sonst nicht viel für den sexuell erblühenden Teenager 1991. Erregungsware wurde unterm Ladentisch verkauft. Das Fernsehen verstand sich - trotz aller Dirndl-, Trompeten- oder „Frau Wirtin“-Schmuddelfilmchen aus dem Kirch-Archiv - noch immer als Hochamt der Aufklärung, für das man sich die Krawatte um- und nicht abband. Und das Internet war 1991 noch bilderlos. Und so lahm, dass man parallel zum Download einer Seite sein Abitur machen konnte.

Der lebende Tortenbelag

„Tutti Frutti“ war nackte Speckröllchen-Anarchie, teils sogar in 3-D. Das RTL-Team kurbelte in der Mailänder „Schrottbude“ (Balder) in nur zwei Wochen einen kompletten Jahresvorrat herunter, bis zu fünf Sendungen am Tag. Herabstürzende Pappkulissen? Texthänger? Widerspenstige BH-Häkchen? Blieben einfach drin. „Wir drehten von elf bis elf“, sagt Monique Sluyter. „Wenn ich abends schlafen ging, klebte Blut an meinen Füßen.“ Sex, Drugs & Rock ‘n‘ Roll? Eher nicht. „Da war nichts mit Highlife“, sagte Balder in einem Interview. Abends ging‘s in Mailand zum Chinesen, Spielchen erfinden. Und wenn mal die Slotmaschine mit den Früchtesymbolen klemmte, kam „Lupo“. „Keine Ahnung, wer Lupo war, aber er haute einmal drauf, und das Ding lief wieder.“

Die Kandidaten der ersten Staffel hatten ihr Recht auf öffentliche Entblößung bei einem Wettbewerb der „Neuen Revue“ gewonnen. Hauptattraktion aber war der lebende Tortenbelag. Die „Erdbeere“ etwa - in der dritten Staffel „Playboy“-Model Elke Jeinsen aus Hannover -, die „Zitrone“ Stella Kobs oder Angélique, deren Nachname bis heute unbekannt ist. In Staffel eins war sie die Mandarine, in Staffel zwei wurde sie zur Kirsche befördert.

Das Ende von Anstand und Sitte?

Natürlich sorgten sich diverse Bedenkenträger um das sittliche Wohlergehen deutscher Pubertanten. Obwohl es bereits Sexformate gegeben hatte („Schloss Pompom Rouge“), diskutierte sich Deutschland wund, ob derlei Trash eine „Normalisierung öffentlich inszenierter Nacktheit“ bedeutete oder das Ende von Anstand und Sitte. Abseits von Moralfragen war sich die Medienkritik schnell einig, dass „Tutti Frutti“ handwerklich und ästhetisch grauenhafter Mumpitz war. Balder lief dann irgendwann heiß, moderierte zum Schein aus fiktiven bayerischen Mehrzweckhallen und lieferte die Medienkritik zum absurd dämlichen Obstspektakel gleich mit, indem er als Erfinder des ironischen Trashs die Mechanismen des Krawallfernsehens entblößte. Gleichzeitig begründete er seinen stabilen Ruf als „Titten-Hugo“. Zwei Millionen Zuschauer sahen „Tutti Frutti“ bis 1993 sonntags um 23 Uhr - ein Wahnsinnsgeschäft. Denn die Sache kostete RTL kaum mehr als 1000 Mark pro Minute.

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Am Ende siegte dann die Liebe: „Tutti Frutti“-Regisseur Wolfgang Weber heiratete die „Blaubeere“ und zog mit ihr nach Köln. Ist doch schön, wenn auch Schmuddelkram mal ein Happy End hat.

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