Müller-Hohenstein und der "Reichsparteitag"
Keine drei Tage war diese Fußball-WM alt, da zeigte die deutsche Sportjournaille erste Verschleißerscheinungen: Da stand ZDF-Frontfrau Katrin Müller-Hohenstein in der Halbzeitpause des Spiels Deutschland – Australien neben dem grantigen Oliver Kahn und suchte in ihrem Kopf nach einem möglichst originellen Ausdruck für die Freude, die Stürmer Miroslav Klose doch nun empfinden müsse, nach seinem Tor zum 2:0, nach dieser langen Durststrecke. „Und für Miroslav Klose“, sagte sie dann mit roten Wangen, „ein innerer Reichsparteitag, jetzt mal im Ernst, dass er heute hier trifft“.
Kahn zuckte nicht. Das Publikum aber merkte kollektiv auf: Hat sie gerade ...? Hat sie wirklich ...? Bei Facebook und via Twitter entlud sich erste Empörung in Echtzeit („Hurra, die deutsche Wochenschau berichtet live aus den deutschen Kolonien in Afrika“), und manche Online-Medien versuchten gar, aus dem Vorgang einen Nazi-Skandal zu konstruieren: Von einem „folgenschweren Fehltritt“ schrieb „Welt Online“ und holte gleich Eva Herman aus der Mottenkiste: Erst „unlängst“ habe „eine Moderatorinnenkollegin mit Vergleichen zu Hitlers Herrschaft für einen Skandal und in der Folge ihre Entlassung gesorgt“. Ein Nazi-Vergleich bei einem Spieler mit polnischen Wurzeln – für viele zu viel: „Unfassbar“, „ein absolutes No-go“, „und das bei einer Profijournalistin“.
Das ZDF beeilte sich gestern, die Wogen zu glätten: „Wir haben mit ihr gesprochen. Sie bedauert die Formulierung“, sagte der ARD/ZDF-Teamchef bei der WM, Dieter Gruschwitz. „Das wird nicht mehr vorkommen. Das ist ein umgangssprachlicher Ausdruck, der nicht in die Fernsehsprache gehört.“ Recht hat er. Man sollte sogar sagen: Das ist ein umgangssprachlicher Ausdruck, der nicht in die Gehirne gehört. Als verbaler Indikator für eine heimliche Nazigesinnung aber taugt er nicht.
Um ihren Job muss die 44-jährige „KMH“ (ZDF-Kürzel) nicht bangen, auch wenn die Fußballexperten von „11 Freunde“ titelten: „Müller-Hohenstein bettelt um ihre Entlassung“. Es handle sich um „eine sprachliche Entgleisung im Eifer der Halbzeitpause“, sagte Gruschwitz. Personelle Konsequenzen gebe es nicht.
Ein sprachlicher Fauxpas oder eine politische Entgleisung? Natürlich hat sich der wenig lustige Spruch längst von der Ursprungsbedeutung gelöst, hat als ironischer Ausdruck tiefster Genugtuung Einzug in die Alltagssprache gefunden. Auch überzeugte Antifaschisten nennen Momente des Triumphes im Freundeskreis gelegentlich „innere Reichsparteitage“, ohne sich der tieferen Bedeutung der Sentenz bewusst zu sein oder gar faschistoid zu denken. In ihrer exponierten Stellung als Moderatorin vor knapp 30 Millionen Zuschauern aber muss Müller-Hohenstein auf negativ konnotierte oder missverständliche Redensarten verzichten. Ihre Bemerkung war eine dumme Gedankenlosigkeit einer mittelmäßigen Moderatorin, der Fall eignet sich aber ganz und gar nicht zum politischen Skandal, sondern zeigt höchstens: Beim Fußball gelten andere Regeln als bei „Southpark“.
Zuschauern freilich, denen das „Champions-League-würdige Selbstbewusstsein“ („Süddeutsche Zeitung“) von „KMH“ ohnehin auf die Nerven geht, bietet der Vorfall ein Ventil. Für nicht wenige WM-Betrachter erreicht das Nervpotenzial des Duos Müller-Hohenstein/Kahn fast Vuvuzela-Dimensionen. Man weiß nicht, was das Ohr mehr schmerzt: das Getröte oder das Gequatsche. Politisch aber muss man die Kirche im Dorf lassen: Wenn überhaupt kann man in der Verwendung des Satzes einen Ausdruck spöttischer Distanz zu den Nürnberger Massenaufmärschen im Dritten Reich sehen, quasi einen Beleg der Unverführbarkeit durch Fackeln, Parolen, Propaganda. Mal abgesehen davon, dass nicht nur die NSDAP, sondern alle Parteien vor 1933 „Reichsparteitage“ abgehalten haben, die SPD zum Beispiel 1927 in Kiel, 1929 in Magdeburg, 1931 in Leipzig und dann auch wieder 1946 in der hannoverschen Hanomag-Kantine. Und 1947? Fand der Reichsparteitag der SPD gar in Nürnberg statt.
Die Empörung mancher Medien und Twitteraner zeigt nicht weniger Übereifer als die Bemerkung selbst. Interessant ist, dass viele Zuschauer im Moment von Müller-Hohensteins Verbalgrätsche weniger zusammenzuckten, weil sie die Bemerkung provozierte, sondern weil sie voraussahen, welch anstrengende Mediendebatte diese Worte auslösen würden – nicht schon wieder! Von der reflexhafte Abfrage beim Zentralrat der Juden bis zur offiziellen Reaktion der deutschen Bundesregierung – immer wieder lösen Nazivergleiche erwartbare Erregungsautomatismen im Mediengeschehen in Gang. Doch musste sich die Medienwelt diesmal die Frage stellen: Mag sich denn gar niemand auf den Schlips getreten fühlen? Der stellvertretende Regierungssprecher Christoph Steegmans sagte, für die Bundesregierung habe sich die Diskussion nach der Entschuldigung des ZDF erledigt. Auch der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, mochte sich nicht so recht empören und warnte stattdessen vor Hysterie: „Da gibt es keine böse Absicht“, sagte er der „Leipziger Volkszeitung“. „Ich glaube, das ist ihr einfach so rausgerutscht.“ Und: „Viele Menschen denken gar nicht an die NSDAP, wenn sie es sagen.“
Der Fauxpas der „KMH“ – ein Fest für Spötter: Die „taz“ wies süffisant darauf hin, dass ZDF-Reporter Bela Réthy auch „Alles über rechts“ und „blitzartige Angriffe“ gesagt habe, ohne Proteste. Und ein Twitter-Nutzer kommentierte die Debatte mit den Worten: „Leute, ihr schießt da echt mit V2-Raketen auf Spatzen“ – Antwort: „Jawohl, mein Tabellenführer!“ Darf man das? Man darf, man muss aber nicht.