Wenn die böse Vergangenheit anklopft: „Ein Teil von ihr“ bei Netflix
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Frau mit Vergangenheit: Eine Heldentat bringt Laura Oliver (Toni Collette) und ihre Tochter Andy in höchste Gefahr.
© Quelle: COURTESY OF NETFLIX
Andy Oliver ist nicht wirklich Polizistin, da täuscht die Uniform. Sie erledigt vielmehr den Telefondienst auf dem Polizeirevier im lauschigen Belle Isle in Georgia. Da hat sie vornehmlich gelangweilte, leicht schrullige Damen am Telefon, die ihr – ausgehend von einem Waschbärproblem oder ähnlichem Kokolores – mit ihrem Leben in den Ohren liegen.
Dabei hat sie mit ihrem eigenen Leben genug zu tun. Blond, nett, allein. Aus New York City zurück aufs Land gezogen, um der Mutter zu helfen, feiert sie in der ersten Folge der Thrillerserie „Ein Teil von ihr“ ihren 30. Geburtstag. Ein nerviges Datum, weil man da Bilanz zieht. Nicht mehr ganz jung, noch keine eigene Familie und keinen Plan, was aus ihr werden soll – so sieht das bei Andy (Bella Heathcoate) aus. Ähnlich unaufgeräumt wie sie selbst ist ihre Bude, aber sie fährt Fahrrad statt Auto – also eine für den Planeten. Sympathisch.
Die eben noch harmlose Mutter stoppt einen Amokläufer
Andys Mama Laura (Toni Collette) ist Sprachtherapeutin für traumatisierte amerikanische Soldaten. Für Leute etwa wie einen wütenden Sergeant, der nach einem Einsatz keine Worte mehr hatte und auch jetzt noch um jede Silbe ringt. Laura Oliver hatte Krebs, während der Chemo stand Andy ihr bei und ist dann geblieben.
So feiern Mutter und Tochter in der Burgerbude mit Fritten und Vorhaltungen gemeinsam Geburtstag, bis aus dem Nichts ein Irrer erscheint und seine Ex, deren Mutter und zwei weitere Gäste erschießt. „Steh auf, Bullenschwein, mach deine Arbeit!“ fordert der Amokläufer die am Boden liegende Andy auf, die er für einen bewaffneten Cop hält. Stattdessen steht Laura auf und was dann passiert, geschieht in Sekundenschnelle und beendet das Morden auf die wohl unerwartetste Weise. Mit der Rettung freilich schafft sie ein Problem, das die Thrillerserie „Ein Teil von ihr“ ins Rollen bringt.
Die Geschichte des wehrhaften Normalbürgers ist nicht neu
„Ein Teil von ihr“ ist die erste Serie zu einem Roman der amerikanischen Bestsellerautorin Karen Slaughter, die schon seit mehr als zwei Dekaden Stoff für schlaflose Leseratten liefert. Weitere Verfilmungen ihrer Bücher sind nun endlich unterwegs. Wird auch höchste Zeit.
Slaughters Geschichte des Durchschnittsmenschen, der seinen Job ernst nimmt, sein Kind liebt, in den Zirkeln der Heimatstadt unterwegs ist und plötzlich ungeahnte Wehrhaftigkeit zeigt, ist nun nicht sonderlich neu und originell. Wir erinnern uns an den von Viggo Mortensen in David Cronenbergs „A History of Violence“ (2005) gespielten furiosen Familienvater Tom Stall, der von „alten Zeiten“ eingeholt wurde. Mit ihrem düsteren Auftakt nehmen Drehbuchautorin Charlotte Stoudt („House of Cards“, „Homeland“) und „Better Call Saul“-Regisseurin Minkie Spiro das Publikum aber auch mit dieser Variante durchaus gefangen.
Toni Collette – ein Blick sagt mehr als drei Drehbuchseiten
Wenn man Toni Collette an Bord hat, braucht man sich nicht zu sorgen. Ein Blick von ihr spart glatt drei Dialogseiten. Die Australierin, die 1994 mit „Muriels Hochzeit“ berühmt wurde (und damals einiges zum Abba-Revival beitrug) kriecht unter Zuschauers Haut als Frau mit mysteriöser Vergangenheit.
Ein Gesicht, das unbedingt in Deckung bleiben muss, geht über ein Handyvideo viral, taucht in den Medien auf und zieht prompt mordlustige Menschen an. Zwar kann der erste nächtliche Angreifer ausgeschaltet und mithilfe von Lauras Ex Gordon (Omari Hadwick) von der Polizei unbemerkt vergraben werden. Aber der nächste Killer wird von ihrem unbekannten Gegenspieler ausgesandt werden, soviel steht fest, und so schickt Laura ihre Tochter auf eine Reise nach Norden. „Ich ruf‘ dich an, wenn die Gefahr vorbei ist“, sagt Mama. „Wenn du meine Stimme hörst, kannst du nach Hause kommen.“ Stechender Blick, dringlicher Ton. Einer von Toni Collette gespielten Erzeugerin kommt man nicht mit Widerworten.
Ohne Erklärung wäre man nie auf Odyssee gegangen
Es wird entsprechend viel gefahren in „Ein Teil von ihr“. Andy stößt auf einen von Laura in einer Garage deponierten alten Toyota, mit einem Geldkoffer im Kofferraum und einer Pistole im Handschuhfach. Sie findet Ausweise ihrer Mutter mit verschiedenen Pseudonymen – da heißt sie Nancy Clifton oder Daniela Cooper – und ein Kindheitsfoto. Sie trifft seltsame Leute und seltsame Entscheidungen. Und manchmal möchte man Andy helfen, wenn sie wieder mal die falsche Wegabzweigung Richtung Gefahr nimmt, Dinge tut, die jeder bei Verstand anders tun würde, nur damit die Sache spannend bleibt.
Man selbst wäre sowieso keinen Meter gefahren, ohne dass Mama zuvor eine zufriedenstellende Erklärung der seltsamen Geschehnisse abgegeben hätte. Sowas wie: „Ich war früher mal in einer kleinen Terroristengruppe.“ Da könnte Toni Collette noch so unerbittlich dreinschauen.
Und so gehört diese Serie weder zu den großen Würfen des Streaming-Marktführers, noch zählt sie zum Schauschrott, dessen Konsum man hernach bedauert. „Ein Teil von ihr“ ist vielmehr eine jener soliden Netflixiaden, bei denen das Versprechen des großartigen Auftakts zwar nicht über die volle Länge gehalten wird, bei denen der Zuschauer auch viel zu lange mit Rätseln hingehalten wird, das Ensemble aber gut aufspielt, die Kamera kostbare Bilder liefert und geschmackvolle Popsongs den Eindruck von etwas Edlem erzeugen. Die Rechnung ist aufgegangen: In den Charts des Portals steht „Ein Teil von ihr“ (Stand: 10. März) auf dem Spitzenplatz.
Dass eine solche Geschichte viel komprimierter und energetischer erzählbar ist, hat Meister Cronenberg schon vor 17 Jahren bewiesen. „Ein Teil von ihr“ ist ein Gutteil zu lang und arbeitet – vor allem aufs Ende zu – viel zu stark mit Erklärflashbacks. Slaughters Roman war eine thrillende Achterbahnfahrt, seine Verfilmung kommt einem aber immerhin vor, als stünde man ganz vorn in der Schlange.
„Ein Teil von ihr“, Serie, acht Episoden, von Charlotte Stoudt, Regie: Minkie Spiro, mit Bella Heathcote, Toni Collette (Streambar bei Netflix)