25 Jahre nach der Oderflut: „Die Ungewissheit war das Schlimmste“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/2CTTYSU5BFBUPPG5J4LXKMCNWY.jpeg)
Blick aus dem Flugzeug am 21.07.1997 auf die überschwemmte Ortschaft Ratzdorf, südlich von Eisenhüttenstadt.
© Quelle: Wolfgang Kumm/dpa
Ratzdorf. Ganze Landstriche unter Wasser, Bundeswehrsoldaten, die anpacken, und ein damals noch ziemlich unbekannter Brandenburger Minister, der zum „Deichgrafen“ wird. Die Oderflut von 1997 hat Geschichte geschrieben. Immer wieder gefilmt wird damals das Pegelhäuschen auf seinem Pflastersockel am Ufer in Ratzdorf (Oder-Spree). Damals, im Sommer vor 25 Jahren, steht das kleine Häuschen plötzlich mitten in den Fluten und droht aufgrund der Wassermassen unterzugehen.
Am Abend des 16. Juli 1997 zeigt die rote Digitalanzeige stündlich zehn Zentimeter mehr an, am nächsten Tag steht der Pegel 3,50 Meter über Normal. Erste Gehöfte werden von den Wassermassen eingeschlossen - in Höhe Ratzdorf klafft im Deich eine 1000 Meter große Lücke. Die Flut bahnt sich unaufhaltsam ihren Weg in den Ort - den ersten in Brandenburg, den das Oderhochwasser nach verheerenden Überschwemmungen in Tschechien und Polen erreicht.
SPD-Politiker löste bei Oderhochwasser erste Warnstufe aus
Matthias Platzeck hat zu diesem Zeitpunkt längst erste Warnstufen ausgelöst. „Wir haben uns genau angeschaut, was in Tschechien und Polen passiert und damals schon gedacht: Wenn das so vehement beginnt, dann kann das nicht ohne Folgen für uns bleiben“, erinnert sich der damalige Brandenburger Umweltminister im dpa-Interview.
Der SPD-Politiker fährt in die vom Hochwasser bedrohten Ortschaften. Er trifft zunächst auf vorgezeigte Gelassenheit. „Die Leute an der Oder haben gesagt: Wir kennen unseren Fluss, macht nicht solchen Aufruhr, das geht vorbei. Spätestens als das Wasser in Ratzdorf ankam, war allen klar: Das wird hier kein normales Hochwasser.“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/7T3A2WCHXRALXAGMAKJZHPN4QU.jpeg)
Beim Oder-Hochwasser vor 25 Jahren machte sich der damals noch relativ unbekannte Brandenburger Umweltminister Matthias Platzeck einen Namen.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
„Ich war natürlich zwiegespalten“, erinnert sich die Ratzdorferin Ilona Weser, Zweite Beigeordnete für Kultur, Soziales und Gesundheit in der Kreisverwaltung Oder-Spree. Am 22. Juli 1997 ordnet dort Landrat Jürgen Schröter die Evakuierung des Ortes an. „Er hat es sich wahrlich nicht leicht gemacht, musste letztlich den Katastrophenfall ausrufen“, zeigt sie heute noch Verständnis. Wäre das im Ahrtal in Rheinland-Pfalz im vergangenen Jahr ebenso vorsorglich passiert, hätte die Flut dort möglicherweise keine Menschenleben gefordert.
Doch die Ratzdorfer weigern sich, ihren Ort zu verlassen, - auch aus Angst vor Plünderungen verteidigen sie ihr 335-Seelen-Dorf bei Dauerregen mit Sandsackwällen gegen das Hochwasser. Weser bleibt ebenso in ihrem Heimatort und hilft. Lediglich ihre Mutter und die Hühner bringt die Familie in einen höher gelegenen Nachbarort. Obwohl ihr Zuhause nicht direkt in Odernähe, sondern mitten im Ort liegt, mauern sie und ihr Mann alle Eingänge zu. „Die Ungewissheit, was noch kommt, war das Schlimmste.“ Später verstärken freiwillige Helfer und Feuerwehrleute aus umliegenden Orten die Hochwasser-Abwehr.
Der höchste Pegelstand von 6,88 Metern wird am 24. Juli erreicht. Platzeck erlebt die Urgewalt des Flusses hautnah. „Ich habe gesehen, wie jahrhundertealte Eichen in der Ziltendorfer Niederung senkrecht stehend vom Wasser Hunderte Meter nach hinten gedrückt worden sind“, erzählt der SPD-Politiker, der in den Medien wegen seines Krisenmanagements den Titel „Deichgraf“ bekam. Sein Verhältnis zu Wasser sei seitdem ein anderes. Geblieben sei ein Respekt, der ihn bis heute begleite, gibt Platzeck unumwunden zu.
Politik hat aus Oderflut gelernt
Was hat Brandenburg aus der Oderflut vor 25 Jahren gelernt, außer einer Verbesserung des Hochwasserschutzes? Kommunikation, schätzt Platzeck ein, der das bereits 1997 für wichtig hielt. Ihm sei damals klar gewesen: „Wir werden nur eine Chance haben, wenn wir eine sehr transparente, offene Informationspolitik machen, die nichts verheimlicht oder im Unklaren lässt.“ Das habe sich weiterentwickelt. Als Beispiel führt Platzeck die Waldbrände der vergangenen Wochen an und nennt die Kommunikation mit betroffenen Einwohnern und Einwohnerinnen beeindruckend. Es gebe eine hohe Kompetenz bei Landkreisen und Behörden, sagt er.
Doch wird die verheerende Oderflut 1997 die letzte sein? Die Herausforderungen sind mit dem Klimawandel gestiegen, Extremwetterereignisse wie Dürre und regionaler Starkregen wachsen. „Wir müssen auf Extremhochwasser im kleinen Raum gefasst sein“, sagt Brandenburgs Umweltminister Axel Vogel (Grüne). Zwei Erkenntnisse habe man mit der Oderflut gewonnen: die Deiche mit neuen Systemen zu verstärken und dem Fluss durch Deichrückverlegung mehr Raum zu geben.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/NMUR3HLNGFBUXJQYPIH6LBVIQY.jpeg)
Anpassung an den Klimawandel: ein Wettlauf gegen die Zeit
Die Flutkatastrophe jährt sich im Juli zum ersten Mal. Wären die Gemeinden besser an Starkregen angepasst worden, hätte eine Tragödie dieses Ausmaßes verhindert werden können. In Hamburg-Altona arbeitet ein vierköpfiges Team schon länger genau daran: an Klimafolgenanpassung. Doch die Erderhitzung wartet nicht – und es eilt.
Von den an der Oder zu erweiternden beziehungsweise neu zu bauenden 191 Deichkilometern sind laut Umweltministerium seit 1997 bis heute etwa 90 Prozent erneuert worden. Dafür haben Land, Bund und EU insgesamt 338 Millionen Euro bereitgestellt. Deichabschnitte an der Unteren Oder und in Frankfurt/Oder sollen planmäßig verstärkt werden. Zwölf Kilometer Hauptdeiche sind noch zu sanieren. Zudem kündigte das Ministerium am Mittwoch an, dass Umweltminister Vogel das nächste Projekt offiziell am 24. August mit dem ersten Spatenstich für einen besseren Hochwasserschutz in Frankfurt/Oder starten werde. Dort werde bis 2024 eine neue Hochwasserschutzwand hergestellt.
Dagegen kommt der Deichrückbau nach Worten von Vogel eher wenig schnell voran. 50 Hektar mehr Raum habe der Fluss bisher nur erhalten, allerdings durch veränderte Trassen und nicht durch Rückverlegung der Deiche. Es sei ein generelles Problem an der Oder, dass auf deutscher Seite wenig potenzielle Überflutungsfläche zur Verfügung stehe, erklärt der Umweltminister in Frankfurt (Oder).
Die Deichlücke in Ratzdorf wurde im Jahr 2005 geschlossen. Der Deich bewährte sich beim nächsten Oderhochwasser 2010. Jetzt, 25 Jahre später, sei die Oderflut unter den Ratzdorfern kein Thema mehr, meint die Lokalpolitikerin Ilona Weser. „Mit dem Deich fühlen wir uns sicher, und es gibt inzwischen wichtigere Themen.“
Wenn Touristen in den Ort kämen, interessierten sie sich nicht für das Pegelhäuschen, sondern für den Michael-Jackson-Spielplatz, hat die 71-Jährige beobachtet. Der 2009 verstorbene Musiker hatte nach der Oderflut 10.000 D-Mark gespendet, um für die Kita im Ort einen neuen Spielplatz bauen zu lassen. Eine Kita gebe es nicht, sagt Weser. Der Spielplatz sei aber trotzdem gebaut worden.
RND/dpa