„Wie sollen wir das durchstehen?“
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Zivilisten und Mitglieder des syrischen Zivilschutzes führen Such- und Rettungsmaßnahmesuchen in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes in Harem durch.
© Quelle: Anas Alkharboutli/dpa
Istanbul. Die Nacht liegt noch über der Südtürkei und Nordsyrien, als ein dumpfes, drohendes Grollen aus der Tiefe die Katastrophe ankündigt. Sekunden später, um 4.17 Uhr, beginnt die Erde zu beben, unheimliche eineinhalb Minuten lang. Straßen öffnen sich, Gebäude stürzen ein. Tausende Menschen fliehen aus ihren knirschenden und schwankenden Häusern in die Winternacht. Tausende werden unter einstürzenden Decken und Mauern begraben.
Stunde um Stunde steigt die Zahl der Toten.
Noch in der Dunkelheit versuchen Retter in beiden Ländern, Menschen aus den Trümmern zu ziehen. Doch dem ersten Erdstoß folgt eine beispiellose Bebenserie mit immer neuen Erschütterungen.
Im Morgengrauen, als Regen, Schnee und kalter Wind über die Region ziehen, wird das erste Ausmaß der Zerstörung sichtbar. In der Türkei sind zehn Provinzen betroffen, Tausende Gebäude stürzten ein, darunter ein Krankenhaus in der Mittelmeer-Hafenstadt Iskenderun. In der Provinz Sanliurfa bricht ein 14-stöckiges Gebäude wie ein Kartenhaus zusammen. Menschen dürfen nicht in ihre Häuser. Draußen ist es bitterkalt, in der Provinz Malatya schneit es heftig. Im benachbarten, vom langen Krieg geschlagenen Syrien zerstören die Beben ganze Häuserreihen. Zu spüren sind die Erschütterungen noch in Israel, dem Libanon, in Zypern und im Irak.
Stärkstes Erdbeben in der Türkei seit Jahrzehnten
Haluk Özener, Experte der Erdbebenwarte Kandilli in Istanbul, spricht vom stärksten Erdbeben in der Türkei seit Jahrzehnten. 1999 waren bei einem Beben in der Nähe Istanbuls mehr als 17.000 Menschen ums Leben gekommen.
An diesem verheerenden Montag zählen Behörden und Hilfsorganisationen bis zum Abend schon mehr als 1700 Tote in der Türkei und mehr als 1300 in Syrien. Aber mehr als 2000 Überlebende bergen die Retter nach offiziellen Angaben aus den Trümmern. Ein kleines Mädchen, in Decken gewickelt, wird gerettet und in Malatya ein Baby, äußerlich unverletzt.
An anderen Orten warten die Menschen verzweifelt auf Hilfe. Im südtürkischen Hatay harrt eine Frau über Stunden in ihrem Auto aus. „Es ist kalt, und wir wissen nicht, wie wir das durchstehen sollen“, sagt sie. Gefühlt die Hälfte der Stadt liege in Trümmern, das Krankenhaus sei voller Verletzter, darunter Kinder. Am frühen Nachmittag sind noch keine Helfer vor Ort gewesen.
Der Flughafen ist teilweise zerstört: Der Asphalt der Landebahn hat sich durch den Druck des Bebens zusammengeschoben und ist aufgeplatzt. Flugzeuge werden vorerst nicht starten oder landen. Das heißt: Es wird lange dauern, bis Hilfe zu den Menschen kommen kann.
Panische Szenen spielen sich am Flughafen von Gaziantep ab. Ein Video zeigt, wie Reisende mit Taschen unter Sirenengeklingel aus einer Halle zum Ausgang rennen, Ältere versuchen mitzuhalten. Das Gemäuer einer historischen Burg in Gaziantep, gebaut von den Römern im zweiten Jahrhundert nach Christus, ist zu einem grauen Trümmerberg zusammengefallen wie eine Sandburg am Strand.
Ohne Wasser, Strom und Netz
Die Katastrophenschutzbehörde AFAD entsendet am Montagmorgen 1898 Helfer mit 150 Fahrzeugen in das betroffene Gebiet. Sie beginnen mit dem Aufbau von Zeltstädten für Zehntausende Obdachlose. In weiten Teilen der Katastrophenregion sind Strom- und Wasserversorgung ausgefallen. In sechs Provinzen ist das Mobilfunknetz zusammengebrochen. Das erschwert die Suche nach Verschütteten.
Die Menschen hier wissen, dass es jederzeit passieren kann. Erdbeben sind hier alltäglich. Unter der Türkei treffen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Für die Mehrheit der Bevölkerung herrscht faktisch ständig Gefahr.
Jeden Tag werden etwa 30 Erdstöße registriert. Die meisten sind nur für empfindliche Messgeräte wahrnehmbar. Ende November aber hat ein Beben der Stärke 5,9 die Provinz Dünce im Nordwesten der Türkei erschüttert. 94 Menschen wurden damals verletzt. „Dies ist vielleicht die letzte Chance einer Warnung“, sagte damals der international hoch geachtete Geologe Celal Sengör.
„Die Katastrophe wird kommen“
Sengör warnte vor einem verheerenden Beben, das Istanbul zerstören könnte. Geologen rechnen mit einer Stärke von 7,1 bis 7,7 – und potenziell 40.000 bis 100.000 Todesopfern. Es kann sich in zehn oder 20 Jahren ereignen – oder morgen. „Sicher ist: Die Katastrophe wird kommen“, sagte Sengör vor zwei Monaten.
Nun hat die Katastrophe nicht Istanbul überrollt, sondern eine andere dicht bevölkerte Region. Die US-Erdbebenwarte USGS wies die Stärke des ersten Bebens um 4.17 Uhr mit 7,8 auf der Richterskala aus, das zweite große Beben um 13.24 Uhr mit 7,5.
Vor laufenden Kameras: Zweites Erdbeben lässt Wohngebäude einstürzen
Moment der Panik in Malatya. Die Stadt in der osttürkischen Region Anatolien ist am Montagmittag erneut von einem schweren Beben erschüttert worden.
© Quelle: Reuters
Und wieder zeigt sich überall die oft schlechte Qualität der Bauten in der Türkei. Selbst moderne Gebäude, die einem Beben dieser Stärke eigentlich standhalten müssten, wenn die Bauvorschriften beachtet würden, fielen in sich zusammen und begruben ihre Bewohner. Die Gründe sind fehlerhafte statische Berechnungen und Pfusch, wenn die Bauunternehmer etwa bei Stahlarmierungen sparen oder minderwertigen Beton verwenden.
„Unser Haus stürzte über unseren Köpfen zusammen“
Auf der anderen Seite der Grenze, nahe Aleppo, ist die Lage ebenso dramatisch. Der Leiter des Nationalen Erdbebenzentrums spricht vom stärksten Beben in Syrien seit 1995.
Die Syrerin Amna hat mehrere Knochenbrüche, sie meldet sich mit schwacher Stimme telefonisch aus dem Krankenhaus. „Unser Haus stürzte über unseren Köpfen zusammen. Wir konnten nirgendwo hin“, berichtet sie. „Mein Mann und einige meiner Kinder sind noch unter den Trümmern. Gott helfe mir.“
Auch aus Aleppo, das im Bürgerkrieg bereits so viel erlitten hat, gibt es ein Video, in dem mehrere Häuser offenbar bei einem Nachbeben einstürzen. Kinder und Erwachsene laufen schreiend davon, während hinter ihnen Staub über der verregneten Straße aufsteigt.
Syrien ist nach bald zwölf Jahren Bürgerkrieg vielerorts zerstört, die Bevölkerung zermürbt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten ist die gesundheitliche Versorgung schlecht. In den von Rebellen beherrschten Gegenden bemühen sich Hilfsorganisationen, eine Grundversorgung sicherzustellen. Die Folgen dieser Katastrophe können sie aber unmöglich stemmen. Es fehlt an Betten, Medikamenten – und viele Ärzte und Fachleute sind schon lange geflüchtet.
Rami Abdel-Rahman, dessen Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte den Konflikt seit 2011 verfolgt, spricht von Hunderten noch verschütteten Familien im Norden Syriens. „Die Retter sind sehr wenige, um den Anforderungen dieser Katastrophe gerecht zu werden“, sagt er. Dass humanitäre Hilfe für die Menschen im Nordwesten nur noch über den letzten Grenzübergang Bab al-Hawa kommt, also aus der Türkei, erschwert die Lage. Denn die türkische Seite des Nadelöhrs ist selbst von der Katastrophe betroffen.
Hart getroffen sind auch die syrischen Flüchtlinge, die im Süden der Türkei in Notunterkünften leben. „Ich dachte, dass die ganze Stadt zusammenstürzt“, berichtet Rami Araban von der Hilfsorganisation Care Deutschland aus Gaziantep, wo rund eine halbe Million syrischer Flüchtlinge lebt. „Es gibt kein Wasser, und wir stehen bei Minusgraden im Schnee draußen. Die Menschen weinen. Alle haben Angst.“