„Theoretisch hätte kaum ein Mensch zu Schaden kommen müssen“
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„Theoretisch müsste man sagen, dass kaum ein Mensch hätte zu Schaden kommen müssen. Wir können mittlerweile so bauen, dass so eine Magnitude durchaus gut verkraftbar ist“, sagt der Katastrophenforscher Prof. Dr. Martin Voss gegenüber dem RND.
© Quelle: Ibrahim Oner/SOPA Images via ZUM
Berlin. Das Ausmaß der Zerstörung in der Türkei und Syrien ist riesig. Etliche Menschen verloren bei den verheerenden Erdbeben vom Montag ihre Lebensgrundlage, Zehntausende kamen ums Leben oder wurden verletzt. Die Betroffenen seien in einer Situation, die man sich nicht vorstellen will, sagt der Katastrophenforscher Prof. Dr. Martin Voss, Leiter der Katastrophenforschungsstelle Berlin (KFS) an der FU-Berlin, im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Das ist die Grenze dessen, was ein Mensch überhaupt ertragen kann.“
Der Sozialwissenschaftler ordnet die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien gegenüber dem RND ein und erklärt, warum solche Katastrophen immer auf ein „gesellschaftliches Versagen“ zurückzuführen sind.
+++ Alle Entwicklungen nach den schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Liveblog +++
Herr Voss, die Menschen in den betroffenen Erdbebenregionen erleben immens traumatische Ereignisse. Wie schwer macht das der Psyche zu schaffen?
Das kommt auf die Nähe der Betroffenheit an. Dass ein Angehöriger verschüttetet ist und man nicht weiß, ob er noch lebt, ist eine Situation, die man sich nicht vorstellen will. Das ist die Grenze dessen, was ein Mensch überhaupt ertragen kann. Diese pure Verzweiflung, diese Hilflosigkeit und trotzdem zu hoffen und zu bangen, das zerreißt einen Menschen. Da gibt es nur wenig Trost.
Am Ende der Betroffenheitsskala stehen die, die in der Ferne sitzen und sich kaum vorstellen können, was so was dort mit den Menschen macht. Das löst beispielsweise Spendenbereitschaft oder die Frage aus, was man noch machen kann, um zu helfen. Betroffenheit ist ein weites Feld. Zwischen der fernen Betroffenheit und der direkten Betroffenheit durch beispielsweise den Verlust eines Angehörigen liegt viel und wirkt sich entsprechend mehr oder weniger stark auf die Psyche aus.
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Martin Voss ist Leiter der Katastrophenforschungsstelle Berlin (KFS) an der FU-Berlin. Der Sozialwissenschaftler beschäftigt sich vor allem mit der Risiko-, Krisen- und Katastrophenforschung.
© Quelle: picture alliance / dpa
Wie lange dauert es, bis ein direkt betroffener Mensch ein solches einschneidendes Ereignis verarbeitet hat?
Ein Mensch, der unmittelbar durch den Verlust von Angehörigen betroffen ist, wird sich nachhaltig verändern. Es gibt Studien über Überlebende aus Konzentrationslagern, die der Frage nachgegangen sind, wie es sein kann, dass einige danach trotzdem ein einigermaßen unauffälliges Leben haben führen können. Man sieht aber schon an der Art der Fragestellung, dass man davon ausgeht, dass das kein Mensch vollkommen verarbeiten kann im Sinne einer Rückkehr zu einem Leben, wie es vorher war. Es gibt aber Menschen, die das eben doch zumindest weitgehend schaffen. Da sagt die Forschung, dass es Eigenschaften gibt, die man entweder schon mitbringt oder aber auch trainieren kann, um so etwas zumindest besser durchstehen zu können.
Entscheidend ist meiner Meinung nach aber das soziale Umfeld, ob andere in solchen Situationen für die direkt Betroffenen da sind oder sie auf sich allein gestellt sind. Die zentrale Ressource einer Gesellschaft in Krisen und Katastrophen ist der soziale Zusammenhalt, der Gemeinsinn.
Zahlreiche Länder haben Rettungsteams in das Katastrophengebiet geschickt. Liegt es in der Natur des Menschen, in solchen Situationen solidarisch zu sein?
Ich spreche nicht von der Natur des Menschen, wir sind soziale Wesen. Das heißt, dass wir uns daran orientieren, wie sich andere verhalten. Heute spielen die Medien dabei eine große Rolle. Wenn berichtet wird, dass ganz viel Hilfe anläuft, dann triggert das noch mehr Hilfe an. Andere Menschen sehen das und denken, dass das das normale Verhalten in dieser Situation ist und agieren ähnlich. Das sind soziale Ansteckungsmechanismen und hat mit der Natur des Menschen wenig zu tun. Der Mensch ist weder böse noch gut – er ist das, was ihn die Gesellschaft werden lässt.
War das betroffene Gebiet ausreichend auf ein Erdbeben dieser Größenordnung vorbereitet?
Um ein Erdbebenereignis dieser Größenordnung präventiv anzugehen, braucht es Jahrzehnte der Planung, Gestaltung und Umsetzung entsprechender Vorgaben. Es ist gebaute Infrastruktur, die Schaden nimmt, wenn sie nicht adäquat auf die Magnituden ausgelegt ist. Theoretisch müsste man sagen, dass kaum ein Mensch hätte zu Schaden kommen müssen. Wir können mittlerweile so bauen, dass so eine Magnitude durchaus gut verkraftbar ist.
Also haben die Behörden vor Ort die Katastrophenprävention vernachlässigt?
Wir sehen aktuell die vielfältigen Fehler der Vergangenheit. Zwei Faktoren sind dabei besonders hervorzuheben: Gelder werden zum einen politisch verteilt. Wählerinnen und Wähler honorieren andere Investitionen, beispielsweise in günstige Wohnungen, mehr, als solche in den Bevölkerungsschutz. Dies ist also nicht genuin ein Versagen der politischen Akteure allein, diese wurden ja gewählt. Aber politische und behördliche Verantwortung liegt dort, wo Kontrollpflichten nicht nachgekommen wurde, wo Gebäudestandards umgangen wurden – oder Ähnliches –, wo Menschen also ohne eigenes Zutun und Wissen Risiken ausgesetzt wurden.
Was macht eine solche Katastrophe mit den nationalen Bewusstsein? Wird es nachhaltig gestärkt?
In der Regel schweißen solche Ereignisse in den ersten Stunden, Tagen und vielleicht Wochen stark zusammen. Das ist nicht mal auf Ethnien oder Nationen beschränkt, sondern betrifft heute in der medial vernetzten Welt fast die gesamte Weltgemeinschaft. Auch wir in Deutschland fühlen uns den Menschen in der Türkei und Syrien plötzlich sehr nah. Dieser Effekt ist durch die Medien und das Internet heute sehr viel stärker als noch vor 50 Jahren.
Und wie geht es dann weiter?
Nach ein paar Wochen kann die Situation schon ganz anders aussehen. Das Leid über die Verluste veranlasst dazu, die Frage nach der Schuld zu stellen. Nach einiger Zeit wird die Schuldfrage den Menschen, besonders den direkt betroffenen, eigen, weil sie einen Grund für die Katastrophe haben wollen. Vor 100 Jahren hätte man einfach gesagt, dass das Schicksal ist oder eine höhere Kraft. Heute muss man feststellen, dass eine solche Katastrophe immer ein gesellschaftliches Versagen ist. Wir hätten es verhindern können. Diese Katastrophe hat also nach ein paar Wochen eher das Potenzial zu zerrütten, weil nach den Schuldigen und Verantwortlichen gesucht werden wird.
Noch umfassender betrachtet: Macht es sich auch international bemerkbar, dass sich bei solch tragischen Ereignissen und der anschließenden Solidarität etwas im Bewusstsein der Menschheit verändert – auch mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine?
Das wünschte ich mir, aber das glaube ich nicht. Die geopolitische Situation ist seit Jahrzehnten so strukturiert, dass ein Erdbeben, auch in diesem Ausmaß, nichts daran rüttelt. Die aktuellen geopolitischen Verschiebungen sind entkoppelt von solchen Ereignissen zu betrachten. Anders ist das sicherlich beim Krieg in der Ukraine selbst. Der hat vielleicht das Potenzial, auch diese langfristigen geopolitischen Strategien neu zu justieren.
Regional kann eine solche Katastrophe aber schon friedensstiftend oder konfliktlösend – oder aber auch konfliktverstärkend wirken. In Syrien könnte das Erdbeben durchaus Auswirkungen auf die Gemengelage in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten haben. Ähnliches haben wir beispielsweise in Indonesien und Sri Lanka erlebt.
(Israel wollte nach dem Erdbeben nicht nur in der Türkei, sondern auch in Syrien humanitäre Hilfe leisten. Entsprechendes teilte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Montag mit. Israel und Syrien befinden sich offiziell im Krieg, Anm. d. Red.)