Günther Jauch und die 200-Millionen-Euro-Frage
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Günther Jauch wirbt für die Einwegwasserflaschen von Lidl.
© Quelle: Lidl
In seiner langen TV-Karriere kam Günther Jauch immer wieder ins Staunen. Wenn einer seiner Quizkandidaten an der 50-Euro-Frage scheiterte. Wenn ein Fußballtor umfiel, so wie bei seiner legendären Champions-League-Moderation. Zuletzt wunderte sich Jauch über eine helle Plastikflasche.
In einem Werbespot hebt er sie von einer grünen Wiese, im Hintergrund saftige Hügel und Vogelgezwitscher. „Das hier“, fragt Jauch in die Kamera, „soll eine der ökologischsten Flaschen sein?“
In der XL-Version des Clips ist er noch erstaunter: „Ausgerechnet diese hier – eine Einwegplastikflasche?“
Jauch schiebt sie in einen Pfandautomaten und lädt die Zuschauer und Zuschauerinnen ein, hinter die Kulissen zu schauen. Genauer: In das Einwegpfandsystem von Deutschlands zweitgrößtem Discounter. Lidl, so Jauchs Tenor, stelle zu 100 Prozent wiederverwertbare Plastikwasserflaschen her.
Er führt die Zuschauerinnen und Zuschauer durch den Recyclingprozess, verweist auf Studien und Nachteile von Mehrwegflaschen. Gegen Ende des Films zieht er Bilanz: kein Neuplastik, viel weniger CO₂-Verbrauch beim Transport, weniger Müll. Jauch wirkt, als könne er es selbst nicht glauben. „Da frage ich mich, warum das nicht alle so ökologisch hinkriegen?“
Greenwashing- und Lobbyvorwürfe
Jauchs Werbeoffensive für Lidl begegnet Verbrauchern derzeit fast überall: auf Plakaten, im Fernsehen. Expertinnen und Experten sprechen von der größten Umweltkampagne des Jahres. Das Ziel ist klar: Das negative Image von PET-Flaschen aufzupolieren. Auf einer eigens eingerichteten Website sagt Jauch zur beworbenen „Kreislaufflasche“ von Lidl, es lohne sich, manchmal „etwas genauer hinzusehen“.
Das haben auch Umweltschutzorganisationen getan – sie kritisieren Lidls und Jauchs Versprechen. Greenpeace spricht von „Greenwashing“ und „Lobbyarbeit“; die Deutsche Umwelthilfe warnt Kundinnen und Kunden davor, „auf die Werbekampagne von Lidl hereinzufallen“.
Zehn Jahre lang war Jauch überhaupt nicht als Werbegesicht zu sehen, bis er im vergangenen Jahr für eine Onlineapotheke warb. Nun spielt er, der wie kaum eine andere öffentliche Figur für Faktentreue und Seriosität steht, für Lidl den sympathischen Einwegaufklärer. Zu Recht?
Lidl sieht sich als Recyclingmeister
Nach Lidls PR-Film funktioniert das hauseigene Einwegflaschensystem so: Die abgegebenen PET-Flaschen werden erst zusammengepresst, dann eingeschmolzen und in kleine, aufblasbare Formen gebracht, die erst an der Trinkwasserquelle zu den bekannten Literflaschen aufgepustet und schließlich befüllt werden.
In der Werbung wirbt Lidl mit einer Studie des Instituts für Energie- und Umweltforschung (Ifeu). Der Discounter hat die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen damit beauftragt, die Ökobilanz seiner Einwegflaschen zu prüfen. Die Ergebnisse fallen formidabel aus: So schlägt die CO₂-Bilanz der 1,5-Liter-Lidl-Wasserflasche (33 Kilogramm pro 1000 Liter) die einer durchschnittlichen 0,7-Liter-Glasmehrwegflasche (61 Kilogramm) und der einer Ein-Liter-Plastik-Mehrwegflasche (41 Kilogramm) deutlich.
Emissionen würden vor allem beim Transport der eingepressten Flaschen eingespart, brüstet sich Lidl. Außerdem lobt sich der Discounter dafür, kein neues Plastik bei der Herstellung zu verwenden. Ein kompletter Kreislauf eben.
Einweg- versus Mehrwegflaschen
Die Recyclingexpertin von Greenpeace spricht gegenüber dem „Stern“ dagegen von einer politisch motivierten Kampagne. Sie kritisiert die Transportwege, die den Berechnungen zugrunde liegen, und dass ökologische Aspekte wie der Abrieb von Mikroplastik zu wenig beachtet würden.
Und die Deutsche Umwelthilfe bemängelt, dass die Vergleichswerte der Studie nicht aktuell seien. So stünden für das Lidl-Recyclingsystem aktuelle technische Daten zur Verfügung, während die Vergleichswerte der herangezogenen Mehrwegsysteme teils älter als zehn Jahre seien. Hinzu komme, dass Lidls 0,5-Liter-Wasserflasche schlechter abgeschnitten habe als die Mehrwegmodelle. Lidl schnitt die Werbung jedoch nur auf die 1,5-Liter-Flaschen zu.
Doch insgesamt halten die Umweltschützer weniger Lidls-Recycling-Kreislaufsystem an sich für problematisch als vielmehr den Eindruck, der durch die Kampagne entsteht: dass Einwegflaschen per se besser seien als Mehrwegmodelle.
„Man vergleicht Äpfel mit Birnen“
Die Studienergebnisse seien nicht auf Einweg-Plastikflaschen allgemein übertragbar, sagt die Greenpeace-Expertin Viola Wohlgemuth. 75 Prozent aller in Europa anfallenden PET-Flaschen würden nicht zu neuen PET-Flaschen verarbeitet, „sondern wandern in andere Stoffströme wie für Textilien und andere Verpackungen“, die sich durch das Label „Recycling“ einen „grünen Anstrich“ geben wollten.
Auch die Autoren der Ifeu-Studie merken an, dass sich die Resultate nicht verallgemeinern ließen, beispielsweise für andere Firmen oder Getränkesegmente. Lidl hat also eine Sonderstellung mit seinem auf Effizienz getrimmten Wasserflaschensystem. Thomas Fischer von der Umwelthilfe kritisiert im SWR deshalb, dass Lidls „hochoptimiertes Verpackungssystem“ mit der Durchschnittsverpackung des gesamten Mehrwegmarktes verglichen werde. „Man vergleicht im Grunde genommen Äpfel mit Birnen.“
Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ merkt ein Lidl-Vertreter selbst an, dass Lidls hochprozentige Recyclingquote eine Ausnahme ist. Im Gesamtmarkt würden nur 40 Prozent der gesammelten PET-Getränkeflaschen zum Rohstoff für neue Flaschen verarbeitet werden.
Systemfrage auf dem Getränkemarkt
Doch warum trommelt der Discounter so vehement für die Einweglösung? Im Hintergrund geht es um Politik, viele Milliarden – und eine Systemfrage: Einweg oder Mehrweg.
Mehrwegflaschen, also solche, die gereinigt und mehrfach befüllt werden können, gelten bislang als umweltfreundlichste Variante. Deshalb ist im 2019 in Kraft getretenen Verpackungsgesetz auch das Ziel von 70 Prozent Mehrwegverpackungen für Pfandgetränke festgeschrieben. Die Quote wird bislang aber nicht strikt verfolgt, der Anteil liegt derzeit bei knapp über 40 Prozent.
Bundesumweltministern Steffi Lemke (Grüne) hatte jedoch Anfang des Jahres verlauten lassen, dass sie über eine verpflichtende Mindestquote für Mehrwegflaschen in Supermärkten nachdenke. Auch die EU will mehr Mehrweg.
Für Discounter wie Lidl, die meist nur Einwegflaschen anbieten, wäre eine strengere Mehrwegpflicht eine finanzielle Herkulesaufgabe. Ein Beratungsunternehmen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat berechnet, dass eine 70-Prozent-Mehrwegquote Kosten von knapp 11 Milliarden Euro verursachen könnte. So müssten die Supermärkte etwa neue Anlagen für die Sortierung, Reinigung, Abfüllung der Flaschen anschaffen.
Zudem hat Lidl eigenen Angaben zufolge bereits einen dreistelligen Millionenbetrag in sein PET-Kreislaufsystem investiert. Testimonial Günther Jauch nennt gegenüber der „SZ“ eine Summe von „über 200 Millionen Euro“. Eine Investition, die sich für den Konzern langfristig auszahlen soll.
Für Thomas Fischer von der Umwelthilfe ist das Investment einer der Gründe für die Lidl-Jauch-Werbung: „Das ist eher ein Investitionsschutz von Lidl und politisch motiviert. Das Signal an die Politik: Lasst das bitte mit der Mehrwegförderung, weil Einweg ist doch toll.“
Jauch selbst sieht „Aufklärungsbedarf“
Jauch steht nun an vorderster Front der Lidl’schen Systemkampfs. In einem Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ verteidigte er sein Werbeengagement bereits und nannte Lidls PET-Flaschen „eine ökologische Getränkeverpackung“, zu der es allerdings noch „Aufklärungsbedarf“ gebe. Doch ganz grundsätzlich: „Diese Kreislaufflasche ist ein innovatives und ökologisches System und das Gegenteil von Greenwashing.“
Lidl selbst hatte die Werbekampagne schon Anfang des Monats angekündigt. Man wolle, „dass unsere Fakten und Argumente angehört und fair in die politische Bewertung mit einbezogen werden“. Der Zeitpunkt passt zu Lemkes Ankündigung, nach Ostern Vorschläge für eine Novelle des Verpackungsgesetzes vorzustellen. Die Absprachen laufen also bereits; die Grundsatzfrage, ob Mehrwegflaschen stärker gefördert werden sollen, wird sich bald klären.
Parallelen zu Jauchs Krombacher Werbung
Derweil redet Jauch den Verbrauchern im Lidl-Werbespot ins Gewissen: „Überlegen Sie beim nächsten Mal doch einfach, welche Flaschen Sie kaufen.“ Der Unterschied liege eben im Detail.
Schon einmal fiel eine Getränkewerbung mit Jauch im Nachhinein negativ auf. So verkündete er vor rund 20 Jahren, dass mit jedem Kasten Krombacher-Bier ein Quadratmeter afrikanischer Regenwald geschützt werde. Schon damals gab es Greenwashing-Vorwürfe sowie gerichtliche Auseinandersetzungen. Jedoch: Der Marke und ihrem Image hat es nicht geschadet; im Gegenteil, man sei gegen den Trend im Markt gewachsen, bilanzierte ein Krombacher-Presseprecher gegenüber der „taz“.
Sollte sich also auch bei Lidls PET-Werbung mittelfristig der Jauch-Effekt einstellen, dürfte das niemanden erstaunen.