WM schauen wie früher? Auf der Suche nach der Stimmung
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Fußballfans im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund.
© Quelle: DFM/Hannappel
Die Suche nach der guten alten „Schland“-Zeit treibt die Überzeugungstäter in einen Glasbau am Dortmunder Hauptbahnhof. Hier stellt das Deutsche Fußballmuseum die Reliquien der Nationalmannschaft aus: den braunledrigen Stiefel vom „Boss“ und Siegtorschützen ‘54, Helmut Rahn, das Finaltrikot des „Bombers“ Gerd Müller von ‘74. Unter Mario Götzes Stollen klebt noch Rio-Rasen. Im Foyer warten rund 100 Fans auf den Anstoß gegen Japan. Einige sind extra vom Niederrhein hergekommen, weil ihre Stammkneipe nicht überträgt.
Hier im Ruhrgebiet, der Wiege der deutschen Fußballkultur, funkelt der WM-Pokal aus Brasilien in einer Vitrine unter der Leinwand – mehr Ambiente geht nicht. Auf den Tischen steht frisch Gezapftes, die eingefleischten Fans tragen weiße Trikots und Schals. Wenn man hier nicht in WM-Stimmung kommt – wo dann? Und die, die hergekommen sind, wollen diese Stimmung wirklich um jeden Preis. Werktags, um 14 Uhr, bei neun Grad Außentemperatur.
„Das ist schon skurril, wir waren eben noch beim Weihnachtsmarkt“, erzählt Thorsten, 51. „Sonst trägt man zur WM kurze Hosen.“ Er ist mit drei Freunden hier, normalerweise stehen sie auf der Südtribüne in Dortmund. Und jetzt – trotzdem WM, wie immer? „Wir sind aus Freude am Fußball hier“, sagt Marc, 50. Er betont diese „Freude“ extra.
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Noch kein Stimmungshoch beim Public Viewing im Deutschen Fußballmuseum.
© Quelle: DFM/Hannappel
Eine WM, die spaltet
Zwei Stockwerke drüber versucht die Ausstellung „Sternstunden der Nationalelf“ diese Glücksgefühle zu konservieren. Die Heroen der DFB-Elf hat man an diesem Nachmittag fast ganz für sich – klar, zeitgleich wird unten ja neue Geschichte geschrieben. Und wer weiß, wer hier noch so aufkreuzt. „Trifft man bei euch manchmal Fußballstars?“, lautet ein Extra-Punkt in den FAQs auf der Museumswebsite. Götze, Matthäus, Mats Hummels, alle schon hier gewesen. Was wir sicher wissen: Mats Hummels hätte vermutlich Zeit.
Zunächst begrüßen einen aber die elf WM-Helden vom Wunder von Bern in Lebensgröße, die schwarz-weißen Konterfeis kleben im Halbrund um den heiligen Schuh von Helmut Rahn. Dahinter hängen die Eheringe von Sepp Herberger und seiner Frau Eva. Und spätestens als Herbert Zimmermann in einer Ecke aus einem Röhrenradio brüllt: „Turek, du bist ein Fußballgott!“, hält man doch kurz inne. Fußball, ach ja – das hat die Nation ja mal zusammengeschweißt.
Beim Public Viewing im 21. Jahrhundert, fast 70 Jahre später, geht es um andere Themen. Die Debatte um die „One Love“-Binde? „Doof, aber abgehakt“, sagt Fußballfan Marc. An Manuel Neuers Stelle hätte er sie getragen, sagt er.
„Nein, hättest du nicht!“, ruft sein Kumpel Sebastian dazwischen.
Marc: „Ich hätte gesagt, ich steh‘ dazu. Alle beim Warmmachen an dat Ding.“
„Was die Iraner gemacht haben, das war mutig – die kommen in den Knast“, wirft Holger ein.
„Die WM wurde komplett kaputtgeredet“, meint Thorsten. „Man hätte das vorher diskutieren sollen: die Lage der Arbeiter, die Queer-Debatte. Aber das jetzt zu machen, ist scheinheilig.“
Das sind die Themen, über die im Zuge der WM 2022 gesprochen wird. Sie entzweit eher, als dass sie eint.
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Die BVB- und Deutschland-Fans Sebastian, Thorsten, Marc, Holger (von links nach rechts).
© Quelle: DFM/Hannappel
Zwischen Folklore und Kommerz
Irgendwo oben im Museum hängt die Kapitänsbinde von Bernhard Dietz, Europameister 1980. Sie ist grün-weiß gestreift, „Spielführer“ steht drauf, ohne Hashtag.
Dietz ist ein Kind des Ruhrgebiets, er spielte für Duisburg und Schalke. Drei Kilometer sind es vom Museum aus zum Stadion von Borussia Dortmund, Platz für 80.000 Zuschauer, Slogan: Echte Liebe.
Die Diskrepanz zwischen Fußballtradition und des auf Hunderten Milliarden Dollar gebetteten Megaevents in Katar ist vielleicht nirgendwo größer als hier. Deshalb wird die WM natürlich auch in Dortmund boykottiert, sogar ein 2014-Weltmeister macht mit: Die Kneipe des Fußball-Malochers Kevin Großkreutz zeigt die deutschen Spiele etwa nicht.
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Unter der Leinwand ist der WM-Pokal von 2014 ausgestellt.
© Quelle: DFM/Hannappel
Marc, Thorsten und ihre Freunde gucken trotzdem. „Der Fußball ist ja nur der Ausgangspunkt. Man trifft sich vorher, nachher. Es ist das Gemeinschaftserlebnis“, sagt Marc.
Sie waren schon auf der Fanmeile beim „Sommermärchen“ 2006, sind im Wohnwagen bei der EM 2008 rumgereist. Trotzdem braucht es etwas, bis man wieder drin ist im Rudelgucken. Das merkt man, als das Japan-Spiel losgeht.
Die Nationalhymne singt keiner mit, kaum Zwischenrufe in den ersten zehn Minuten. „Da ist er!“, brüllt der erste bei Rüdigers Kopfballchance in der 16. Minute. Ein anderer trommelt auf den Tisch. Im Krisenwinter 2022 sehnen sich einige das kollektive Erfolgserlebnis regelrecht herbei.
In der 30. Minute sitzt Gündogans Elfmeter. Ein Mann steht auf und streckt beide Fäuste aus: „Deutschland, Deutschland!“ Es macht niemand mit; der Jubel verhallt schnell. Halbzeitfazit: Zur WM-Ekstase ist es noch ein weiter Weg.
Oben in der Dauerausstellung reist man in stimmungsvollere Zeiten zurück. Zur karierten Schiebermütze von Weltmeistertrainer Helmut Schön, zum kreidenen Elfmeterpunkt aus dem Stadio Olimpico in Rom, von dem 1990 Andi Brehme den Ball ins Netz schob. Auch das Finaltrikot mit der Nummer Zehn, vom Größten aller Zeiten, Maradona, hängt hier.
Dramatische Streichermusik führt in die „Hall of Fame“ des deutschen Fußballs. Natürlich ist hier vieles Pathos, Überhöhung, auch Verklärung. Die Musuemsidee entstand 2006 im deutschen WM-Sommer. Der Bund der Steuerzahler kritisierte den Bau später – „zu viel Steuergeld für eine Nebensache“.
Und doch bekommt man hier das seltene Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein: einer gemeinsamen Fußballkultur. Zumindest als Fan. Alles, wofür der Sport mal stand – Zusammenhalt, Freude, Freundschaft –, ist hier ausgestellt. Nicht umsonst firmiert das Museum am Platz der Deutschen Einheit.
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Das Deutsche Fußballmuseum wurde 2015 eröffnet.
© Quelle: DFM/Hannappel
Auf der Suche nach der WM-Stimmung
Im Vergleich zu den vielen Jubelbildern von damals wirkt das Public Viewing 2022 wie verzagt. Nur ein Drittel der Plätze ist belegt. Deutschland führt, aber ob man sich freuen kann, weiß man auch nicht so recht.
In der zweiten Halbzeit unternimmt die deutsche Mannschaft zunächst einiges, damit mehr Stimmung aufkommt.
Gündogan trifft in der 59. Minute den Pfosten: „Aaaaahhhh“, ein Raunen geht rum. Und bei einer Dreifachchance ab der 70. werden erst die Hände über den Kopf geschlagen und dann rhythmisch zusammengeschlagen. Ist das etwa so was wie Begeisterung?
Auch bei den vier BVB-Fans kommt Stimmung auf. 73. Minute, Chance Japan, Neuer pariert. „Den hat er mit dem Reklamierarm gehalten“, witzelt Marc. „Die spielen überraschend gut“, freut sich Thorsten. „Aber Vorsicht, ich bin abergläubisch.“
Tja: 76. Minute, Japan macht den Ausgleich. Da helfen auch die „Abseits, Abseits“-Rufe aus Dortmund nicht mehr.
Und dann patzt in der 83. ausgerechnet ein BVB-Verteidiger, Nico Schlotterbeck. Und die aufköchelnde Stimmung ist sofort wieder aus. „Kommt, Mensch!“, ruft einer verzweifelt.
Sieben Minuten Nachspielzeit, in der 95. verzieht Goretzka – die Hoffnung schwindet.
Das unschöne Ende einer Zeitreise
Und dann ist Schluss. Binnen Minuten leert sich der Raum, zurück bleiben leere Humpen, Enttäuschung. Der WM-Eskapismus will einfach nicht mehr funktionieren.
Die TV-Quote, das zeigt der nächste Tag, ist für ein deutsches WM-Spiel unterirdisch. Weniger als zehn Millionen Zuschauer, normalerweise gucken mindestens 25 Millionen zu.
Und siehe da: Dieses Befremden mit der Fußballwelt, das im Moment so viele vom Mitfiebern abhält, zieht irgendwann auch in die Museumsausstellung ein. Auf den letzten Metern, je weiter man in der Zeit voranschreitet. Der Spickzettel von Jens Lehmann aus dem WM-Viertelfinale gegen Argentinien 2006, schön und gut – aber war das Sommermärchen letztlich nicht auch nur gekauft?
Sommermärchen-Verfahren gegen Ex-DFB-Bosse eingestellt
Nach der Verjährung beim Prozess in der Schweiz folgt auch in Frankfurt nach längerer Zeit eine Entscheidung bei der Aufarbeitung des Sommermärchens von 2006.
© Quelle: dpa
Neben einem Trikot von Mesut Özil, dem begnadeten wie umstrittenen Spielmacher, klebt das Foto von ihm und dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan. Der Eklat führte 2018 zu einer teils hässlichen Rassismusdebatte.
Bleibt noch 2014 als vorerst letztes unbeschwertes Turnier. Aber was ist eigentlich aus den ganzen Raumschiffstadien inmitten der Favela-Hütten geworden? Damals galt die WM in Brasilien mit rund 10 Milliarden Euro noch als teuerste aller Zeiten. Katar investierte das 22-Fache.
Die Zeitreise der Nationalmannschaft im Deutschen Fußball Museum ist somit auch eine der Politisierung und der Kommerzialisierung. Das sieht man etwa an den WM-Finalbällen: eine namenlose Lederpille von 1954, der typisch schwarz-weiße gefleckte Adidas-Ball von 1974, selbst das 1990er-Modell sieht mit seinen Rundmustern noch dezent aus. Den Ball aus Rio überziehen gold-grün-schwarze Strudel; Name „Brazuca Final Rio“. Er ist nicht ganz so bunt wie der WM-Ball aus Katar.
Auch das fragt man sich am Ende: Was wird hier von der WM 2022 eigentlich ausgestellt werden? Die „One-Love“-Binde? Ein Foto von elf Nationalspielern, die sich mit der Hand den Mund zuhalten? Selbst wenn Deutschland sich noch bis zum WM-Pokal siegen würde, würde man sich darüber nie so freuen können wie über die WM-Triumphe in Bern, München, Rom, Rio.
Insgesamt sei die Stimmung verhalten gewesen, konstatiert BVB-Fan Thorsten, bevor er und seine Freunde in den grauen Novembernachmittag entschwinden. „Aber so war es bei der WM in Japan und Südkorea 2002 auch am Anfang“, sagt er noch. „Nachmittags trinken die meisten eben Kaffee statt Bier.“
In Zeiten, in denen alles anders ist, hoffen einige noch immer auf eine WM wie immer.