Erdbeben in der Ägäis: Die Angst vor der großen Katastrophe am Bosporus
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Sollte ein Erdbeben Istanbul treffen, könnte es bis zu 100.000 Todesopfer geben.
© Quelle: dpa
Istanbul. Das Erdbeben, das am Freitag die östliche Ägäis erschütterte und vor allem in der türkischen Küstenstadt Izmir große Schäden anrichtete, war ein Weckruf. Als Nächstes könnte es die Bosporusmetropole Istanbul treffen. Die 16-Millionen-Einwohner-Stadt ist akut erdbebengefährdet – aber schlecht auf die drohende Katastrophe vorbereitet.
Unermüdlich suchen die Retter in der westtürkischen Millionenstadt Izmir nach Überlebenden unter den Trümmern eingestürzter Wohnblocks. Eines der Gebäude war vor laufender Kamera wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Stümperhafte Statik, schlampige Ausführung, korrupte Beamte in den Bauämtern – wieder zeigten sich in Izmir die tödlichen Folgen dieser tief verwurzelten Übel.
Türkei hat immer wieder mit Erdbeben zu kämpfen
Die Türkei ist eines der am häufigsten von Erdbeben heimgesuchten Länder der Erde. Zwei Drittel Kleinasiens werden von aktiven Bruchzonen durchzogen. Als besonders gefährdet gilt Istanbul. Dort wächst die Angst vor einer verheerenden Erdbebenkatastrophe. Sie könnte Zehntausende Menschen in den Tod reißen. Denn die Megacity am Bosporus ist nur unzureichend auf möglicherweise bevorstehende Beben vorbereitet.
Die Türkei liegt im Spannungsfeld tektonischer Platten. Hier treffen die Kontinentalblöcke Afrikas, Arabiens und Eurasiens aufeinander. Die seismisch aktivsten Gebiete liegen entlang der nordanatolischen Verwerfung. Sie verläuft über etwa 1200 Kilometer vom Iran durch die Nordtürkei und das Marmarameer bis in die Ägäis. Hier bewegen sich zwei Blöcke der Erdkruste gegenläufig aneinander vorbei. Wenn sie sich ineinander verhaken, baut sich Spannung im Gestein auf. Ist dessen Bruchgrenze erreicht, entlädt sich die aufgestaute Energie ruckartig in einem Erdbeben.
Erst vor 21 Jahren starben fast 19.000 Menschen bei einem verheerenden Erdbeben
Genau das passierte am 17. August 1999. Damals brachte ein Erdbeben der Stärke 7,4 bei der Industriestadt Izmit mehr als 15.000 Gebäude zum Einsturz. Fast 19.000 Menschen starben, 120.000 Familien wurden obdachlos. Auch im mehr als 100 Kilometer entfernten Istanbul richtete das Beben Schäden an, etwa 200 Menschen kamen dort ums Leben. Aber die Politiker haben wenig daraus gelernt. 21 Jahre nach der Katastrophe warnte kürzlich der Vorsitzende der Istanbuler Bauingenieurskammer, Nusret Suna, der Baubestand in Istanbul sei immer noch „in einem katastrophalen Zustand“. Bei einem Beben sei „das Leben Hunderttausender Bürger bedroht“.
Im Laufe der Jahrhunderte hat die nordanatolische Bruchzone immer wieder verheerende Beben ausgelöst. Ein Abschnitt der Verwerfung bereitet den Forschern jetzt besondere Sorge: die Kumburgaz-Bruchzone, die zwischen den Istanbuler Küstenorten Silivri und Avcilar durch das Marmarameer verläuft. In diesem Abschnitt hat sich seit Langem kein Beben mehr ereignet – ein Indiz dafür, dass sich dort Spannungen im Gestein aufbauen. Hier erwarten Experten daher ein Beben. Im September vergangenen Jahres erschütterten bereits zwei mittelschwere Erdstöße die Region. Sie richteten nur leichte Gebäudeschäden an, aber Fachleute sehen darin die Vorboten einer großen Katastrophe. „Die Situation ist kritisch“, warnten seinerzeit führende Wissenschaftler um den Erdbebenexperten Prof. Celal Sengör.
Experten sind sich sicher: Die Katastrophe in Istanbul wird kommen – die Frage ist wann
Geologen rechnen mit einem Beben der Stärke 7,1 bis 7,7. Es kann sich in zehn Jahren ereignen – oder schon Morgen, sagen manche Experten. Andere Wissenschaftler sehen ein Zeitfenster bis 2040. Sicher ist: Die Katastrophe wird kommen. Aber trotz der beständigen Warnungen ist die Stadt bisher nur unzureichend vorbereitet. Eine im Auftrag der Stadtverwaltung 2017 erstellte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass von den 1,6 Millionen Gebäuden der Stadt rund 600.000 stark erdbebengefährdet sind. Wie viele Todesopfer ein schweres Beben in Istanbul fordern würde, ist strittig. Die Zahl hängt wesentlich von der Tageszeit ab, zu der es sich ereignet. Schätzungen beginnen bei 40.000 und gehen in eine Größenordnung von bis zu 100.000 Toten.
Nach dem Beben von 1999 wurden zwar neue Katastrophenpläne ausgearbeitet. So wiesen die Behörden im ganzen Stadtgebiet Flächen aus, in denen im Katastrophenfall Sammelstellen für Hilfsgüter und Rettungsgerät eingerichtet sowie Zeltstädte für Obdachlose gebaut werden sollen. Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, der als Oppositionskandidat die Kommunalwahl 2019 gewann, wirft der Regierung aber vor, sie habe in den vergangenen Jahren viele dieser Grundstücke zur Bebauung freigegeben.
Auf das schwere Erdbeben 1999 folgte die schwerste Finanzkrise der jüngeren Geschichte der Türkei
Auch die wirtschaftlichen Folgen könnten dramatisch sein. Im Großraum Istanbul konzentrieren sich 36 Prozent der Industrieproduktion des Landes. Hier werden 31 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet. Das Izmit-Beben von 1999 ließ das türkische BIP um 3,4 Prozent schrumpfen. Die Katastrophe legte die weit verbreitete Korruption bei den Bauämtern und schwere Versäumnisse beim Katastrophenschutz offen. Das Beben leitete einen wirtschaftlichen Absturz der Türkei ein. 2001 rutschte das Land in die schwerste Finanzkrise seiner jüngeren Geschichte. Sie erschütterte das Vertrauen vieler Türken in die damals dominierenden politischen Parteien. Die Bürger bereiteten ihnen bei den Parlamentswahlen von 2002 eine vernichtende Niederlage und brachten als neuen Hoffnungsträger Recep Tayyip Erdogan an die Macht.
Seither regiert er die Türkei ununterbrochen. Aber ein großes Erdbeben in Istanbul könnte auch die Fundamente seiner Regierung erschüttern. Erdogan kämpft mit wachsenden Wirtschaftsproblemen. Die Lira taumelt von einem Tief zum nächsten, das Land treibt in eine Währungskrise. Das Izmit-Beben des Jahres 1999 verursachte seinerzeit Schäden von rund 20 Milliarden Euro. Eine Bebenkatastrophe in der Bosporusmetropole hätte weitaus größere Folgen. Sie könnte die Türkei in die Staatspleite treiben – und Erdogan aus dem Amt.