Erdbeben mit vielen Toten in der Ägäis: „Die längsten Sekunden meines Lebens“

Rettungskräfte und Anwohner versuchen in Izmir Menschen zu befreien, die unter den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes begraben sind.

Rettungskräfte und Anwohner versuchen in Izmir Menschen zu befreien, die unter den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes begraben sind.

Izmir. Es war ein milder Freitag im Herbst. Bei spätsommerlichen Temperaturen von 23 Grad flanierten viele Menschen an der Uferpromenade der westtürkischen Küstenstadt Kusadasi. Auch auf der gegenüberliegenden griechischen Insel Samos waren die Straßencafés und Restaurants am Hafen von Vathy gut besucht. Aber um 13.51 Uhr war es vorbei mit der Idylle. Ein dumpfes Grollen aus der Tiefe schreckte die Menschen auf, Sekundenbruchteile später brach das Beben los. Fast eine halbe Minute lang rütteln die Schockwellen alles durch. Risse im Asphalt tun sich auf, Mauern stürzen ein. „Man konnte sich kaum auf den Beinen halten“, berichtet Angelos Maniatis, der am Hafen von Vathy ein kleines Geschäft betreibt. „Es waren die längsten Sekunden meines Lebens – eine furchterregende Ewigkeit.“

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Das Epizentrum des Bebens lag 19 Kilometer nordwestlich von Samos, der Bebenherd befand sich in nur zehn Kilometern Tiefe unter dem Meeresboden. Die geringe Tiefe erklärt die Heftigkeit des Bebens. Türkische Seismologen bezifferten die Stärke auf 6,9 auf der Richterskala, die amerikanische Behörde USGS berechnete eine Stärke von sieben. Über die Zahl der Opfer gab es zunächst keine gesicherten Erkenntnisse. Türkische Medien berichteten unter Berufung auf die staatliche Katastrophenschutzbehörde von zwölf Toten und über 400 Verletzten. Aber die Zahlen dürften steigen, je weiter die Rettungs- und Bergungsarbeiten vorangehen.

Bewohner unter den Trümmern

In Izmir, mit 4,3 Millionen Einwohnern drittgrößte Stadt der Türkei, richtete das Beben die größten Schäden an. Erste Fernsehbilder zeigten unmittelbar nach dem Beben mehrere große Staubwolken über der Stadt. Nach Angaben des türkischen Innenministers Süleyman Soylu stürzten in den Stadtteilen Bornova und Bayrakli sechs mehrstöckige Wohnhäuser ein. Izmirs Bürgermeister Tunc Soyer sprach von 20 eingestürzten Gebäuden. Zahlreiche Bewohner seien unter den Trümmern eingeschlossen, meldete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Der Einsatz der Rettungsmannschaften verzögerte sich offenbar. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie Anwohner mit bloßen Händen die Trümmer der eingestürzten Gebäude wegzuräumen versuchten, um Eingeschlossene zu befreien. Telefonverbindungen und die Wasserversorgung waren in vielen Stadtteilen unterbrochen. Auch in den westtürkischen Provinzen Usak, Denizli, Manisa, Balikesir, Aydin und Mugla richtete das Beben Schäden an.

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Zur betroffenen Region gehören auch mehrere Urlaubsgebiete an der türkischen Ägäisküste wie Kusadasi, Bodrum und Marmaris. Dort war das Beben ebenfalls heftig zu spüren. Wie groß die Zerstörungen in diesen Ferienorten sind und ob Touristen zu Schaden kamen, war zunächst unklar. Auch in der westtürkischen Millionenstadt Istanbul waren die Schockwellen des Bebens deutlich wahrzunehmen. Viele Menschen liefen in Panik auf die Straßen. Die Bosporusmetropole lebt in ständiger Angst vor einer Erdbebenkatastrophe. Die Region um Istanbul wurde im August 1999 von der schwersten Erdbebenserie in der jüngeren Geschichte der Türkei heimgesucht. Mehr als 18.400 Menschen kamen damals ums Leben, fast 50.000 wurden verletzt.

Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis rief am Freitagnachmittag den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an. „Ich habe ihm angesichts der Opfer dieser Katastrophe, die unsere beiden Länder getroffen hat, mein Beileid ausgesprochen“, teilte Mitsotakis auf Twitter mit. „Was auch immer unsere Differenzen sind, dies sind Zeiten, in denen unsere Völker zusammenhalten müssen“, twitterte der Premier. Die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei sind wegen des Streits um die Wirtschaftszonen im Mittelmeer derzeit äußerst gespannt.

Zwei Jugendliche sterben auf Samos

Auf der griechischen Insel Samos richtete das Beben schwere Schäden an zahlreichen älteren Gebäuden an. Ein 17-jähriger Junge und ein gleichaltriges Mädchen kamen ums Leben, als sie auf dem Heimweg von der Schule in einer engen Gasse der Inselhauptstadt Vathy von einer einstürzenden Mauer begraben wurden. Nach ersten Berichten gab es auf Samos durch herabstürzende Gebäudeteile mindestens acht Verletzte. Ein Tsunami, eine Flutwelle, überspülte die Uferpromenaden in den Hafenorten Vathy und Pythagorion. Boote wurden an Land geworfen, Autos ins Meer gespült. Einigen Autofahrern gelang es noch, in ihren Fahrzeugen vor der schnell ansteigenden Flut in höher gelegene Stadtteile zu fliehen. Von „chaotischen Szenen“ berichtet der Vizebürgermeister der Insel, Giorgos Dionysou. „Die Menschen liefen nach dem Beben in Panik auf die Straßen und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen.“

Akis Tselentis, Professor für Geophysik an der Universität Athen und Direktor des griechischen Instituts für Geodynamik, rief die Bevölkerung zur Vorsicht auf. Weil sich das Beben in einer sehr geringen Tiefe von nur zehn Kilometern ereignete, sei „über Wochen, vielleicht Monate“ mit starken Nachbeben zu rechnen, die bereits jetzt beschädigte Gebäude vollends zum Einsturz bringen könnten. Tselentis warnte die Bewohner, nicht in beschädigte Gebäude zurückzukehren.

Auf Samos richtete das Erdbeben schwere Schäden an.

Auf Samos richtete das Erdbeben schwere Schäden an.

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Aus Athen flog der Vizeminister für Zivilschutz und Katastrophenmanagement, Nikos Chardalias, noch am Freitagnachmittag nach Samos, um die Rettungseinsätze zu koordinieren. Transportflugzeuge des griechischen Militärs brachten Rettungsteams nach Samos. Fachleute sollen in den nächsten Tagen die beschädigten Gebäude daraufhin prüfen, ob sie noch bewohnbar sind oder abgerissen werden müssen.

Auch auf den Nachbarinseln Leros, Kalymnos, Kos und Chios versetzte das Beben viele Menschen in Angst. Sogar im 300 Kilometer westlich gelegenen Athen waren die Schockwellen des Bebens deutlich zu spüren.

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