Hochwasserkatastrophe im Ahrtal: nach der Flut
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Die von der Flut zerstörte Eisenbahnbrücke über der Ahr in Altenahr.
© Quelle: Boris Roessler/dpa
Wer könnte dem Regen jetzt noch trauen? Glauben, dass er wirklich nur etwas Nässe bringt, Pfützen vielleicht, aber doch nicht mehr diesen zerstörerischen Strom? Es ist das, was jetzt so viele erzählen, die diese Katastrophe erlebt haben, die das Wasser in ihren Häusern haben steigen sehen, die sich hinaufgeflüchtet haben in die oberen Etagen oder auf das Dach, um zu überleben: dass jetzt schon ein paar heraufziehende dunkle Wolken genügen, um sie in Gedanken in jene Nacht zurückzuversetzen, in der das Wasser ihnen so vieles nahm.
„Ich habe jetzt immer Angst, wenn es regnet“, sagt eine Frau, die am Abend des 14. Juli in ihrem Haus am Rand von Erftstadt-Blessem ins Bett ging – und für die am nächsten Morgen kaum mehr etwas so war wie zuvor. Waltraud Groten ist ihr Name, aber man trifft, wenn man in den Gebieten unterwegs ist, unzählige Kinder, Eltern, Ältere, die ganz Ähnliches erzählen.
Die Angst vor dem Regen ist so etwas wie das Zeichen jenes kollektiven Traumas, das die Menschen an Ahr, Erft, Kyll, Nims und vielen anderen Flüssen in jener Nacht erlitten haben. Das psychische Erbe einer Flut.
Niemand ahnt, welche Katastrophe naht
Als es bereits in der Nacht zuvor, der Nacht zu Mittwoch, zwischen Sauerland und Bergischem Land heftig zu regnen beginnt, da ahnt noch kaum jemand, welche Katastrophe sich da anbahnt – jedenfalls kaum jemand von denen, die es hätten wissen sollen, den Bewohnerinnen und Bewohnern der Häuser an den Flüssen.
Dabei sei schon am Montag, zwei Tage vor der Katastrophe, klar gewesen, welche Wassermengen da vom Himmel zu kommen drohten, sagt der Meteorologe Jörg Kachelmann viel später, Ende November, im Untersuchungsausschuss des Landtags in Nordrhein-Westfalen. „Die Informationen waren alle da.“ Am Tag vor der Flut, am 13. Juli, twitterte Kachelmann, es werde „womöglich Zeit, Menschen (…) auf ein Hochwasserszenario vorzubereiten“.
Doch viele Kreise und Kommunen warnen spät, leise – oder gar nicht. Der stark betroffene Kreis Ahrweiler zum Beispiel schickt keine Warnung an das Meldesystem, mit der Folge, dass auch die Medien nicht warnen.
Mir war klar: Wenn uns keiner rausholt, müssen wir sterben.
Waltraud Groten,
Bewohnerin aus Erftstadt-Blessem
Als der 79-jährige Günter Groten in Erftstadt-Blessem am frühen Donnerstagmorgen im ersten Stock seines Hauses aus dem Fenster schaut, ist dort, wo am Abend zuvor noch Häuser standen, ein riesiger Krater. Auf der Rückseite hat dieser Krater seinen halben Garten weggerissen, samt Apfelbaum und Taubenschlag. „Wir konnten nicht nach vorne, nicht nach hinten“, sagt Groten. „Mir war klar: Wenn uns keiner rausholt, müssen wir sterben“, sagt Waltraud Groten.
Das Paar schafft es auf das Dach der Garage, von dort rettet die beiden ein Hubschrauber. Die 78-Jährige bricht sich bei der Rettungsaktion fünf Rippen. Aber die zwei überleben.
184 Menschen sterben – die meisten an der Ahr
Die Bilanz jener Flutnacht, die vor allem Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen traf, aber auch Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen berührte, ist verheerend. 184 Menschen starben – die meisten in den Orten an der Ahr. Tausende verloren ihr Zuhause. Häuser, Straßen, Bahnstrecken, alles rissen die Fluten mit. Noch viele Jahre, so viel ist klar, wird es dauern, bis die Spuren getilgt sind.
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In Erftstadt-Blessem rissen die Fluten Häuser, Straßen, Bahnstrecken mit.
© Quelle: Rhein-Erft-Kreis/dpa
Dabei war diese Katastrophe so etwas wie der Schnittpunkt aller großen Themen dieses Jahres. Die Bundestagswahl, der Klimawandel, Corona, aber auch die bürokratische Behäbigkeit, die Schwierigkeit, rasch auf Probleme zu reagieren: Das alles spiegelte sich in diesem Unglück.
Ein Lachen wird zum Kipppunkt im Wahlkampf
Dass Kanzlerkandidat Armin Laschet im Hintergrund lachte, während der Bundespräsident an die Opfer erinnerte, dass er also zumindest scheinbar mitleidlos wirkte, war der Kipppunkt der Kampagne des CDU-Kandidaten. Von Erftstadt aus führte der Weg recht gerade Richtung Niederlage. Der Klimawandel macht extreme Wetter und damit Katastrophen wie diese Flut künftig weit wahrscheinlicher. Corona-Leugner und sogenannte „Querdenker“, die Deutschland mit Impf- und Realitätsverweigerung das ganze Jahr über an den Rand der Verzweiflung trieben, waren sich nicht zu schade, auch bei den Verzweifelten in den Flutgebieten unter dem Tarnmantel der Hilfe für sich zu werben. Und zum Beispiel von Bangladesch musste sich Deutschland erklären lassen, dass man Katastrophenwarnungen heutzutage vorzugsweise direkt auf jedes Handy schickt, damit sie auch wirklich jeder bekommt. Hier aber, so stellte man nun überrascht fest, funktionieren nicht mal mehr überall die Sirenen.
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Kipppunkt im Wahlkampf: Armin Laschet (CDU), damaliger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, lachte, während Bundespräsident Steinmeier der Toten gedachte.
© Quelle: Marius Becker/dpa
Deutschland tut sich mit digitaler Technik oft schwer. Das zeigte sich in der Pandemie, bei den oft beklagten Faxen der Gesundheitsämter. Und es zeigte sich an Ahr und Erft, als viele nicht ahnten, was ihnen drohte.
Tagelang ist ein Ort vom Rest der Welt abgeschnitten
Mayschoß an der Ahr, sechs Tage nach der Flut. Die Bundesstraße am Fluss, sonst die Lebensader, ist gesperrt, wegen Schutt, Gestein und Einstürzen unpassierbar. Der einzige Weg in den Ort führt über den Berg, der sich hinter Mayschoß erhebt, eine schmale, gewundene Schotterpiste, gerade breit genug für ein Fahrzeug. Bei Sonne staubig, bei Regen matschig. Unten im Ort, im ersten Stock der alten Schule, haben die Mayschoßer ihren Krisenstab eingerichtet. Wo sonst die Volkshochschule Yogakurse abhält, sitzen sie jetzt zwischen Funkgeräten, Kaffeethermoskannen und Flipcharts und beschließen einen ehrgeizigen Plan: In drei Tagen soll die Straße über den Berg asphaltiert sein. „Das“, sagt Hartwig Baltes, eigentlich Weinbauer, jetzt Krisenmanager, „wird unsere Lebensader. Für lange Zeit.“
Tagelang war der Ort vom Rest der Welt regelrecht abgeschnitten und nur mit Hubschraubern der Bundeswehr erreichbar. Jetzt zeigt sich das ganze Ausmaß der Zerstörung. Am Fluss sind ganze Häuserzeilen weggerissen, übermannshohe Schuttberge versperren die Straße. Über allem liegt eine Schlammschicht. Einem Mehrfamilienhaus fehlt die Rückwand, man sieht in die Zimmer wie bei einem Puppenhaus. Nur die Menschen fehlen. Mindestens drei, so ist zu diesem Zeitpunkt bekannt, sind in Mayschoß gestorben. Eine ältere Frau in ihrem Haus. Ein Paar auf dem Campingplatz.
Aber es gibt auch die anderen, die wundersamen Geschichten. Die von der Frau aus Mayschoß zum Beispiel, die die Flut aus ihrem zusammenfallenden Haus reißt. Und die die Helfer am nächsten Morgen ein paar Hundert Meter flussabwärts von einem Baum retten.
Die Flut ist die folgenschwerste Katastrophe in dieser Region mindestens seit Jahrzehnten. Aber sie bringt noch einen anderen Superlativ hervor: Auch die Hilfsbereitschaft ist die größte, die Deutschland seit Langem gesehen hat. Die Bilder der Menschen, die in einer einzigen Nacht alles verloren haben, die aus dem Schlamm zu klauben versuchen, was ihnen das Liebste und Wichtigste ist, Fotos, Briefe, Familienbücher, Schmuckstücke: Es rührt die Menschen an, über Deutschlands Grenzen hinaus.
Wenn der Bürgermeister dem Innenminister droht
Freiwillige Feuerwehren aus der ganzen Republik, Handwerker, Jugendgruppen, sie alle strömen in die Orte, von denen sie zuvor oft nicht mal den Namen kannten. Bringen Bohrhämmer, Schaufeln und Schubkarren mit, um Schlamm wegzubringen, Putz abzuschlagen, durchnässte Schränke rauszutragen. In den ersten Tagen sind es oft so viele, die sich auf den Weg machen, dass die Krisenstäbe Mühe haben, ihnen überhaupt noch etwas zu tun zu geben. Zum Symbol der Hilfe wird der „Helfer-Shuttle“, eine Buslinie, die Freiwillige aus einem Lager im Gewerbegebiet an der A61 zu ihren Einsatzorten bringt. Was als Aktion zweier Unternehmer, Thomas Pütz und Marc Ulrich, an einem Campingtisch beginnt, wird zu einer durchorganisierten Masseninitiative, die bislang rund 200.000 Menschen zu einem Tageseinsatz an die Ahr gebracht hat.
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Der Ort Mayschoß in Rheinland-Pfalz war tagelang von der Außenwelt abgeschnitten.
© Quelle: Boris Roessler/dpa
Aber viele kommen auch einfach so, auf eigene Faust. Bruno Kalhoj zum Beispiel, ein Däne, von Beruf zuletzt Sicherheitschef bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main, davor mit der dänischen Armee im Irak und in Afghanistan. Als er in Dänemark die Bilder der Zerstörung im Fernsehen sah, lieh er sich einen kleinen Bagger, lud ihn auf seinen Anhänger und fuhr damit an die Ahr nach Mayschoß.
Was er dort sieht, entsetzt ihn. Weil es noch übertrifft, was er in den Kriegsgebieten gesehen hat, in denen er im Einsatz war. Schlimmer sei es hier, sagt Kalhoj, während er den Arm seines Baggers in einen Schuttberg greifen lässt. Und wenn ihn etwas wundere, fügt er noch hinzu, dann nur, „dass die Menschen hier überhaupt noch auf den Beinen stehen nach all der Anstrengung und diesem Verlust“.
Mehrmals droht der Bau der Straße über den Berg nach Mayschoß zu scheitern. Keine Genehmigung, kein Geld, kein Asphalt, der so schnell zu bekommen wäre. Aber sie haben einen Unternehmer im Ort, der das Asphaltieren in Rekordzeit übernehmen will. Als der Bau an einer bürokratischen Hürde doch noch zu scheitern droht, ruft Bürgermeister Hubertus Kunz beim Innenminister in Mainz an, so erzählt er es später, und droht damit, die gesamte Presse einzuladen, die in diesen Tagen im Ahrtal zahlreich vertreten ist, und zu sagen, wer schuld daran ist, dass Mayschoß weiter von der Außenwelt abgeschnitten bleibt. „Danach“, sagt Kunz, „ging es dann.“
Nach drei Tagen war der Weg tatsächlich asphaltiert. Kurz bevor der nächste Regen kam.
Wir werden unsere Chance nutzen. Glauben Sie mir.
Hubertus Kunz,
ehemaliger Bürgermeister von Mayschoß
Nicht nur die persönliche Hilfs-, auch die Spendenbereitschaft ist groß. 584 Millionen Euro kommen bei den verschiedenen Aktionen insgesamt zusammen. 30 Milliarden Euro stellt die Bundesregierung in einem Hilfsfonds zur Verfügung. Schnell und unkompliziert soll die Hilfe verteilt werden, das verspricht die Politik. Doch was Waltraud und Günter Groten in Blessem dann erleben, ist zumindest für sie anfangs das Gegenteil: Online sollen sie die Anträge stellen – obwohl sie nicht mal eine Mailadresse haben.
Noch immer ist das ganze Ausmaß des Schadens nicht absehbar. Die Grotens zum Beispiel glauben sich Anfang Oktober bereits der Rückkehr in ihr Haus nahe – als sie im Wohnzimmer plötzlich den Geruch von Heizöl wahrnehmen. Es war in der Flutnacht ins Gemäuer gezogen, hatte sich in den Steinen festgesetzt – und war erst jetzt wieder zu riechen. Groten, früher auf dem Bau tätig, stemmte die Wand wieder auf, ließ die unteren Reihen neu mauern. Jetzt, endlich, scheint der Geruch verschwunden. „Wir sind im Moment guter Dinge, dass wir wieder zurückkönnen“, sagt er mit noch immer vorsichtiger Erleichterung – Rückschläge kennen die Grotens inzwischen nur zu gut.
Gespendete Weihnachtsbäume vertreiben die geisterhafte Stimmung
Und Mayschoß heute? Ist noch immer von der Flut gezeichnet. Es gibt, wie überall, zu wenige Handwerker, die die vielen Arbeiten übernehmen können. Und wenn es Handwerker gibt, dann fehlen oft die Chips, die Elektronik, um neue Heizungen zum Laufen zu bringen.
Hubertus Kunz, bis vor Kurzem Bürgermeister, hat es zu einer gewissen Meisterschaft darin gebracht, auch nach der Katastrophe noch das Positive zu sehen, die Zuversicht zu kultivieren. Auch sein eigenes Haus machte die Flut unbewohnbar, aber er hat eine neue Unterkunft im alten Pfarrhaus gefunden. Noch immer konnten viele Bewohnerinnen und Bewohner nicht in ihre Häuser zurückkehren – aber gespendete Weihnachtsbäume vertreiben mit ihren Lichtern nun zumindest die geisterhafte Stimmung im Ort. Nur wenige Grundstücke, drei oder vier, dürfen voraussichtlich nicht wieder bebaut werden. 20 Minihäuser, sogenannte Tiny Houses, haben sie mithilfe von Spenden angeschafft und in die Lücken zwischen den Häusern gestellt, damit mehr und mehr Bewohnerinnen und Bewohner wieder nach Mayschoß kommen können.
Aber Kunz und die Menschen in Mayschoß haben noch weit ehrgeizigere Pläne: Sie wollen aus ihrem Ort ein ökologisches Musterdorf machen. Keine Ölheizungen mehr, stattdessen erneuerbare Energien und Blockheizkraftwerke. „Unsere Stunde null“, so hatte Hartwig Baltes die Flut im Sommer genannt, was zugleich nach kriegsartiger Verwüstung wie nach Aufbruch klang. Jetzt, ein knappes halbes Jahr später, verspricht Kunz: „Wir werden unsere Chance nutzen. Glauben Sie mir.“