Telefon-Phobie: Bitte ruf mich nicht an
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Telefonieren ist für immer mehr Menschen ein No-Go.
© Quelle: imago images / photothek
Hannover. Hier kommt ein Bekenntnis, das einige Leser verwundern dürfte: Ja, ich hasse es, zu telefonieren. Und ja, das ist ungewöhnlich – schließlich arbeite ich als Journalist in einem Job, in dem man genau das jeden Tag tut. Man ruft Kollegen an, oder Interviewpartner, oder die Polizei. Und das ist auch alles okay. Aber nach Feierabend? Da möchte ich, dass das Handy schweigsam bleibt.
Warum? Darüber habe ich mir in letzter Zeit häufiger Gedanken gemacht. Denn meine Abneigung gegenüber dem Telefonieren scheint eher ungewöhnlich. Viele meiner Freunde lieben den ausufernden Schnack am Hörer – als wären wir immer noch in den Neunzigern. Sie finden es aus unerklärlichen Gründen „viel einfacher“, eine bestimmte Sache „mal eben am Telefon zu klären“, als per 80.000-Zeichen-Essay bei iMessage oder Whatsapp.
Mir hingegen geht die Telefonschnur hoch, wenn Menschen innerhalb einer Konversation das Medium wechseln wollen. Zum Beispiel mit dem Satz: „Das wäre jetzt zu viel zum Schreiben, kann ich dich kurz anrufen?“ Was bitte soll das?
Ein ungefragter Eingriff in den Alltag
Durch einen Anruf fühle ich mich gestört, gar meiner Freiheit beraubt. Anrufen ist wie ungefragt zu Besuch kommen. Es ist ein Modell, das einfach nicht mehr in diese Zeit passt. Unnötig und übergriffig, ein ungefragter Eingriff in den Alltag.
Wenn ein Handy klingelt, dann ist das wie ein Befehl. Wer einen Anruf annimmt, kann nicht entfliehen. Er ist gefangen im Redeschwall des Anderen, weil dieser eben gerade schwallen möchte – ob es dem anderen gerade in den Kram passt oder nicht.
Dabei wäre das alles gar nicht nötig, denn schließlich können wir auch wunderbar über Messenger kommunizieren. Hier habe ich die Möglichkeit, auch noch mal das Pro- und Contra abzuwägen, bevor ich antworte. Mal über eine Formulierung nachzudenken und selbst zu bestimmen, wann ich überhaupt antworte – zum Beispiel, weil ich gerade keine Zeit oder einfach keine Lust habe.
Auch Sprachnachrichten halte ich für ein legitimes Mittel der Konversation. Und für alles andere: ein persönliches Gespräch. Face-to-Face, nicht am Schrammelhörer. Dann, wenn die Verabredung auf Gegenseitigkeit beruht.
Telefonphobie weit verbreitet
Mein Telefonproblem klingt für Sie wahnsinnig neurotisch? Warten Sie's ab, wir sind noch nicht fertig. Denn mit der Unlust am Telefonieren bin ich nicht allein. Es gibt sogar Menschen, bei denen das Phänomen deutlich ausgeprägter ist – das Internet spricht in diesem Fall von einer sogenannten Telefonphobie.
Sucht man danach, stößt man im Netz schon nach kurzer Zeit auf diverse Erfahrungsberichte von Betroffenen, die vor dem Telefonieren schlichtweg Angst haben. Sie fürchten sich, den Hörer abzunehmen, wenn es klingelt, oder noch schlimmer: Wenn sie jemanden anrufen müssen. Sie haben Angst, sich zu verhaspeln oder ganz generell ohne Blickkontakt miteinander zu sprechen.
Zu den Erfahrungsberichten gesellen sich unzählige Artikel, die das Phänomen Telefonphobie im Job behandeln. Sie geben Ratschläge, wie sich unangenehme Situationen am Telefon vermeiden lassen – etwa durch genaues Planen der Telefonate.
Jugendliche telefonieren kaum noch
Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Zürich hat im vergangenen Jahr herausgefunden, dass das Phänomen Telefonangst vor allem bei Jugendlichen weit ausgeprägt ist: Rund 30 Prozent nutzen demnach die Telefonfunktion ihres Smartphones so gut wie gar nicht mehr. Ein möglicher Grund: Die Angst vor einem spontanen Gespräch, in dem man sofort auf die Antworten des Gegenübers reagieren muss. Denn das haben sie offenbar schlichtweg verlernt.
Philippe Wampfler, Dozent für Fachdidaktik an der Universität Zürich, erklärte die Studie damals gegenüber der Zeitung „20 Minuten“. Viele würden das Telefon nicht mehr abnehmen, weil ein Anruf als störend empfunden werde, so Wampfler. „Während man beim Telefonieren gezwungen ist, sofort zu reagieren, kann man sich bei einer Sprachnachricht Zeit lassen.“
Sebastian Olbrich, stellvertretender Leiter des Zentrums für Soziale Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, erklärte zudem: „Beim Telefonieren kann man das Gegenüber nicht sehen und die Reaktionen somit schlechter abschätzen. Das kann Ängste hervorrufen. Zudem haben einige Angst davor, etwas Falsches zu sagen, das man nicht korrigieren kann.“
Telefonieren ist das neue Rauchen
Die Form der Kommunikation unterzieht sich also einem enormen Wandel – Telefonieren ist das neue Rauchen. Besonders interessant: Inzwischen werden Messenger sogar für Dinge genutzt, die lange Zeit als verpönt galten – zum Beispiel das Schlussmachen per Nachricht.
Jeder Siebte (15 Prozent) findet es laut einer Bitkom-Umfrage mittlerweile völlig in Ordnung, per Whatsapp eine Beziehung zu beenden. 36 Prozent der 16- bis 29-Jährigen haben das sogar schon mal getan.
Wenn man das mal weiterspinnt: Wie würden Sie reagieren, wenn es einen Todesfall gäbe und Sie Ihre Verwandten informieren müssten? Wahrscheinlich würden Sie anrufen. Aber dann sind Sie wahrscheinlich nicht zwischen 16 und 29. Und überhaupt: Wäre es nicht ohnehin viel höflicher, jemanden bei einer schlimmen Nachricht per Messenger vorzuwarnen, als direkt mit dem Klingelton ins Haus zu fallen?
Ich glaube, es ist nicht nur die Form der Kommunikation, die sich ändert – sondern auch das Verständnis davon. Denn Chatten und Sprachnachrichten sind gar nicht so unpersönlich, wie Kritiker vielleicht behaupten würden. Eine Kommunikation in dieser Form ist halt nur „nicht live“. Und das bietet uns allen deutlich mehr Freiheiten als noch zu Zeiten der Wählscheibe. Und Freiheit kann doch eigentlich nicht schlecht sein.
Also: Probieren Sie es mal aus. Und rufen Sie bitte nicht an, danke.