Warum ein Bürogebäude in Kahramanmaras das Erdbeben unbeschadet überstand
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Die türkische Stadt Kahramanmaras gleicht nach den verheerenden Erdbeben mit Zehntausenden Toten einem Trümmerfeld.
© Quelle: IMAGO/NurPhoto
Hannover. Ziemlich unscheinbar steht das grau-blaue Gebäude mit der Aufschrift TMMOB in einem Wohnviertel der türkischen Stadt Kahramanmaras. Gegenüber liegt ein Parkplatz, auf dem Mülltonnen stehen, ein kleiner Supermarkt, viele Hochhäuser. In einer Werkstatt nebenan wird ein weißer Golf gewaschen. Auf der anderen Seite verläuft eine sechsspurige Schnellstraße – auf ihr steht ein Falschparker, der einen Strafzettel an der Windschutzscheibe hat. Hinter dem Gebäude ist eine prachtvolle Moschee zu sehen.
So wie beschrieben ist genau diese Szenerie noch heute auf Archivaufnahmen zu sehen, genauer gesagt beim Kartendienst Google Street View. Die Bilder stammen aus dem November 2022. Rund vier Monate später ist von der Szenerie nichts mehr übrig: Das Wohnviertel von Kahramanmaras liegt, wie viele andere Stadtviertel in der Türkei, nach den verheerenden Erdbeben in Schutt und Asche.
Mit einer Ausnahme: Das Gebäude mit der Aufschrift TMMOB ist noch da. Es ist eines der wenigen Häuser, das die Erschütterungen nahezu unbeschadet überstanden hat – nicht einmal die Scheiben sind zersprungen. Nicht zuletzt deshalb erlebt das Bürogebäude gerade eine Karriere als Social-Media-Phänomen: Hundertfach werden die Bilder des Hauses geteilt – nicht selten mit einer dringlichen Mahnung. Was steckt dahinter?
Symbol für türkisches Bauversagen
Gepostet wurde das Bild etwa von Mahir Ulutas, dem Vorstandsvorsitzenden der türkischen Kammer der Elektroingenieure (EMO). Auf dem Bild zu sehen ist das Gebäude nach den beiden schweren Erdbeben.
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„Keine Worte mehr nötig“, schreibt Ulutas dazu. „Wissenschaft und Technik reichen aus, um Bauwerke zu bauen, die ein so großes Erdbeben überstehen. Solange Wissenschaft und Technik zum Wohle der Menschen eingesetzt werden!“
Damit spielt Ulutas auf die Missstände im Bauwesen der Türkei an. Immer wieder war in den vergangenen Tagen von Expertinnen und Experten darauf hingewiesen worden, dass die massiven Zerstörungen und die hohe Zahl der Todesopfer auch auf menschliches Versagen zurückzuführen seien. Viele Gebäude in der Türkei seien nicht erdbebensicher, zudem gibt es viele illegale Bauten. Viele sind sich einig: Mit der Präsidentschaft Erdogans hat sich das Problem noch verschlimmert.
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© Quelle: dpa
Architektenverband gegen Erdogan
Bei dem Bürogebäude in Kahramanmaras allerdings wurden offenbar alle Vorschriften eingehalten – und das dürfte einen Grund haben. Das Haus ist eine der vielen Zweigstellen des Türk Mühendis ve Mimar Odaları Birligi, kurz TMMOB – des Zusammenschlusses der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern. Ziel der Organisation ist es, die Ingenieure und Architekten der Türkei in beruflichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichen zu vertreten.
Die Organisation ist nicht unpolitisch: Der Verband handelt laut eigenen Angaben zum Schutz der Menschenwürde und stellt sich Menschenrechtsverletzungen entgegen, lehnt Rassismus, Reaktionismus und Verschwörungsideologien ab. Zudem setzt der Verband auf demokratische Methoden bei der Gestaltung und Umsetzung der Politik.
Damit eckt die Organisation insbesondere beim türkischen Präsidenten Erdogan und seiner Partei, der AKP, an. 2013 unterstützte der Verband die Gezi-Proteste, woraufhin er schließlich mit einem eilig durchgedrückten Mitternachtsgesetz kaltgestellt wurde. Die TMMOB wurde fortan von jeglicher Beteiligung an Stadtplanungsprozessen und ihrer Befugnis zur Genehmigung von Plänen entbunden. Mehr noch: Mit Mücella Yapıcı, Tayfun Kahraman und Can Atalay wurden später auch drei Verantwortliche des Verbandes wegen Beteiligung an den Gezi-Protesten verurteilt und inhaftiert.
Immer wieder Kritik an Bauvorhaben
Still blieb der Verband daraufhin trotzdem nicht – darauf weist die Journalistin Arzu Geybulla auf Twitter hin. In den vergangenen Jahren kritisierte die Ingenieur- und Architektenorganisation immer wieder die Missstände bei türkischen Bauvorhaben. 2019 etwa wies die TMMOB darauf hin, dass allein in Istanbul die Hälfte der 1,6 Millionen Gebäude illegal und ohne ordnungsgemäße Ingenieurleistungen errichtet wurde.
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Im selben Jahr kritisierte die Organisation eine umstrittene Amnestie für illegale Bauten, eingeführt von Erdogans eigener Regierung. Eine nachträgliche kostenpflichtige Genehmigung illegaler Bauten würde fatale Folgen haben, warnte der Verband damals. „Es wird bedeuten, dass unsere Städte (...) in Friedhöfe verwandelt werden und dass Särge aus unseren Häusern getragen werden“, so der damalige Vorsitzende Cemal Gökçe.
Zwei Jahre später kritisierte der Verband den Bau einer großen Autofabrik im türkischen Bursa als „nicht erdbebensicher“. „Das Land ist etwa 500 Meter von der Gençali-Verwerfungszone und etwa zwei Kilometer von der Gemlik-Verwerfungszone entfernt“, so der TMMOB-Vorsitzende Hüseyin Alan damals. Würde die Fabrik jetzt auch noch Arbeitskräfte in die Region ziehen, dürften sich die Todesfälle im Falle eines Erdbebens noch erhöhen.
Auch vor dem Bau des Flughafens wurde gewarnt
Und nicht zuletzt meldete die Organisation auch gegen den Bau des Flughafens Hatay mehrfach Bedenken an. Der Grund: Auch dieses Areal war direkt auf der Verwerfungslinie gebaut worden. Die Architekten sollten recht behalten: Das schwere Erdbeben mit der Stärke 7,8 teilte die Start-und-Lande-Bahnen in zwei Hälften, wodurch der Flughafen und die Autobahn unbenutzbar wurden.
„Wir hatten viele Male gewarnt, bevor der Flughafen Hatay gebaut wurde, dass das Projekt entlang der Verwerfungslinie liegt. Aber niemand hat auf uns gehört“, so der Präsident der Ankara-Abteilung des Verbandes, Tezcan Karakus Candan, nach dem Unglück gegenüber der Zeitung „Bianet“.
Massives Risiko durch illegale Anbauten
Gegenüber der „Tagesschau“ erklärt der frühere Präsident des Verbandes, Cemal Gökçe: „Nach Vorschriften gebaute Gebäude stürzen nicht ein. Wir Ingenieure sagen: Ein Gebäude kann Schäden haben, aber es darf nicht in sich zusammensacken.“ Todesfälle dürfe es auch bei einem schweren Erdbeben nicht geben. Gökçe erklärt auch das Problem der einstürzenden Hochhäuser: „Ein Grundproblem in der Türkei ist, dass auf vorschriftsmäßig gebaute Gebäude illegale Stockwerke gesetzt werden, ohne auf Vorschriften zu achten.“ Diese illegalen Stockwerke drückten mit ihrem hohen Gewicht auf die Konstruktionen, sodass sie selbst ohne Erdbeben einstürzen könnten.
Vor dem Hintergrund all dieser Warnungen wird es in den sozialen Netzwerken nun als eine Art Ironie des Schicksals aufgefasst, dass ausgerechnet das Gebäude der Organisation völlig unbeschadet blieb.
Auch andere Architektenhäuser blieben unbeschadet
Das TMMOB-Haus ist aber nicht das einzige Vorzeigeobjekt für erdbebensicheres Bauen. Auch das futuristische Gebäude der Kahramanmaras Mimarlar Odası (Architektenkammer Kahramanmaras) blieb völlig unbeschadet, wie Luftaufnahmen aus der verwüsteten Stadt zeigen.
Präsident Yunus Emre Kaçırmaz erklärt gegenüber türkischen Medien: „Unser Gebäude wurde mit den neuesten Techniken gebaut. Die Steuerung ist sehr glatt und solide. Mehrstöckige Gebäude, die vor 1999 gebaut wurden, wurden zu sehr zerstört. Gebäude mit starkem Balken- und schwachem Stützensystem stürzten zu stark ein. Jetzt müssen wir die Einbindung von Architekten, Ingenieuren, Geologen in die Brachfläche und das Gebäude klar sicherstellen.“