Ist Putins Krieg in der Ukraine tatsächlich ein Zivilisationsbruch wie der Holocaust?
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Ein Friedhof bei Lyman (links) und die Gleisanlagen im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen.
© Quelle: Montage dpa/Ashley Chan und dpa/Wolfgang Kumm
Berlin. Was Russlands Militär seit dem Einmarsch in die Ukraine vor neun Monaten in dem Land anrichtet, ist für die überwiegende Zahl der an Frieden gewöhnten Europäerinnen und Europäer unvorstellbar: Raketen schlagen in Krankenhäuser ein, Kinder werden getötet, Alte sitzen verängstigt in kalten Wohnungen, Mütter fliehen mit ihren Kleinen, Männer werden in Gefangenschaft massakriert.
Ukrainische Ermittlerinnen und Ermittler untersuchen gemeinsam mit internationalen Expertinnen und Experten 40.000 mögliche Fälle von Kriegsverbrechen, verübt von russischen Soldaten oder Söldnern. Irpin, Butscha, Mariupol und Cherson stehen synonym für einen Krieg, der die Zivilbevölkerung immer härter trifft.
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Nach den russischen Raketenangriffen auf die ukrainische Energieinfrastruktur wurden in den vergangenen Wochen Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer von der Strom- und Wärmeversorgung sowie teilweise auch von der Wasserversorgung abgeschnitten. Zugleich wurden durch Einschläge russischer Raketen in ukrainischen Städten Dutzende Menschen getötet.
Lawrow erinnert an den Irak
Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat die Kriegsführung seines Landes und die gezielten Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur verteidigt. „Diese Infrastruktur stützt die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte und der nationalistischen Bataillone“, sagte er am Donnerstag. Gleichzeitig warf er der Nato und den USA eine ebensolche Kriegsführung in der Vergangenheit in Jugoslawien und im Irak vor.
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Kann man den Opferzahlen des Kriegs in der Ukraine trauen?
In der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine kursieren allerhand verschiedene Angaben zu Opferzahlen. Welchen der Zahlen zu trauen ist und welchen eher nicht, erklärt Militärhistoriker Sönke Neitzel im Interview mit dem RND. Zudem zeigt er auf, dass Berichte über hohe russische Verluste nicht unbedingt immer repräsentativ sind.
Bei einem Nato-Treffen im rumänischen Bukarest hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Anfang der Woche den russischen Angriffskrieg in der Ukraine als „Bruch der Zivilisation“ bezeichnet. Die Bombardierung von Infrastruktur bedeute, dass Familien mit kleinen Kindern bei Minustemperaturen ohne Strom, Wasser und Wärme leben müssten.
„Wir erleben auf brutale Art und Weise, dass der russische Präsident jetzt Kälte als Kriegswaffe einsetzt – ein brutaler Bruch nicht nur mit dem Völkerrecht, sondern mit unserer Zivilisation“, sagte Baerbock.
Sensibler Begriff
Der Begriff „Zivilisationsbruch“ wird in der Regel von Politikern sensibel gebraucht. Im Prinzip kann man der Ministerin uneingeschränkt zustimmen – wenn man Kriege für unzivilisiertes Verhalten hält. Leider ist es jedoch so: Die Zivilisation der Menschheit ist von Kriegen mitgeprägt worden, bis heute.
Kein Strom und Wasser: schlechte Versorgungslage in der Ukraine
In der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist auch die Wasserversorgung zu einem Problem geworden.
© Quelle: Reuters
Mit Zivilisationsbruch wird seit Längerem nur eine geschichtliche Zäsur beschrieben: die Schoah oder der Holocaust. Sie bezeichnen die systematische Vernichtung von schätzungsweise sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens im Zweiten Weltkrieg – es waren zwei Drittel der in Europa lebenden Juden.
Der in München geborene Historiker Dan Diner hat den Begriff Zivilisationsbruch in der NS- und Holocaustforschung geprägt. Dieser ist unter Geschichtswissenschaftlern nicht unumstritten, er sollte nach Diners Intention auf die universale Dimension der Ereignisse in der Geschichte der Moderne hinweisen.
Er schrieb in seinem Buch „Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz“ 1988, „indem Menschen der bloßen Vernichtung wegen vernichtet werden konnten, wurden auch im Bewusstsein verankerte Grundfesten unserer Zivilisation tiefgreifend erschüttert – ja gleichsam dementiert“.
Brandmal Auschwitz
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Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz nach der Befreiung.
© Quelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library/ALEXA
Diner ging es um ein Ereignis von menschheitsgeschichtlicher Relevanz und zugleich um das spannungsreiche Verhältnis zwischen Fakten und ihrer jahrzehntelangen Verdrängung.
Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas warnte in diesem Zusammenhang vor „einebnenden“ Vergleichen. Er schrieb 1987, dass Auschwitz die Signatur eines Zeitalters sei. Durch die nationalsozialistischen Verbrechen seien die Bedingungen für die Kontinuierung geschichtlicher Lebenszusammenhänge verändert worden.
So gesehen, könnte sich der Blick auf den Holocaust durch den Vergleich mit den Geschehnissen in der Ukraine relativieren? Und: Macht sich Putin eines Zivilisationsbruchs schuldig, oder führt er lediglich „normal“ Krieg?
Keine einfachen Antworten
Einfache Antworten gibt es darauf nicht. Der Militärhistoriker Christian Hartmann, Leiter des Forschungsbereichs Einsatz im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, sagt aber, dass Putins Armee „eindeutig keine im Sinne des herrschenden Völkerrechts normalen militärischen Operationen“ durchführe.
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Christian Hartmann ist Leiter des Forschungsbereichs Einsatz am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam.
© Quelle: picture alliance / dpa
„Von Anfang an hat Putin einen entgrenzten Krieg führen lassen. Dies hat sich im Herbst sogar noch verstärkt, um von der Stagnation an der Front abzulenken“, so Hartmann. „Im Zentrum der Angriffe auf Kraftwerke steht, die Schwächsten an ihrer schwächsten Stelle zu treffen. Das verstößt eindeutig gegen das humanitäre Völkerrecht.“
Der Experte weist auch auf die geltende Haager Landkriegsordnung hin. Dort sei in Artikel 25 unmissverständlich festgelegt: „Es ist verboten, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnungen oder Gebäude anzugreifen oder zu beschießen.“
Unter diesen Gesichtspunkten hält der Wissenschaftler die Verwendung des Begriffs Zivilisationsbruch durch die Bundesaußenministerin für gerechtfertigt. „Krieg darf nach Genfer Konvention nur gegen Kombattanten geführt werden. Putins Angriffe richten sich jedoch immer auch gegen die Zivilbevölkerung und die ukrainische Kultur“, sagt Hartmann. In Butscha sei dieser Terror sichtbar geworden. „Und Butscha ist kein Einzelfall geblieben.“ Diese Verbrechen seien zivilisationsverachtend.
Extreme Form der Massengewalt
Baerbock sichert der Ukraine Unterstützung zu: „Putin will die Bevölkerung brechen“
Außenministerin Annalena Baerbock warf dem russischen Präsidenten bei einem Nato-Treffen in Bukarest vor, gezielt die ukrainische Infrastruktur zu zerstören.
© Quelle: Reuters
Professor Frank Bajohr, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocauststudien am Institut für Zeitgeschichte in München, hält persönlich wenig von der Begriffsverwendung. „Weder im Hinblick auf den Holocaust noch im Sinne Frau Baerbocks für die russische Kriegführung gegen die ukrainische Zivilbevölkerung“, so der Forscher.
Extreme Formen der Massengewalt seien der Zivilisation durchaus innewohnend, meint Bajohr. „Die Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg einen präzedenzlosen Massenmord an den europäischen Juden vollzogen, waren nicht einfach ‚unzivilisiert‘, und eine eskalierende Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung ist in den meisten Kriegen eher die Regel als die Ausnahme.“ Darum warne er davor, extreme Formen der Massengewalt „allzu schnell als unzivilisierte Barbarei aus unserer Lebenswelt“ zu verbannen.
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Frank Bajohr, Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocauststudien am Institut für Zeitgeschichte in München.
© Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
Der Holocaustforscher beobachtet jedoch schon seit dem Einmarsch Russland in die Ukraine „eine inflationäre Verwendung von Begriffen“, die in der deutschen und internationalen Erinnerungskultur mit völlig anderen Inhalten verbunden würden.
„Wladimir Putin hat diese Begriffe als Erster schändlich missbraucht, als er seinen imperialistischen Angriffskrieg mit Begriffen wie ‚Genozid‘ und ‚Entnazifizierung‘ zu rechtfertigen suchte. Der ukrainische Präsident hat in seiner Ansprache vor der Knesset von ‚Endlösung‘ gesprochen und die russische Kriegführung vor dem Bundestag mit dem Massaker von Babyn Jar 1941 verglichen.“
Hier nun reiht sich die deutsche Außenministerin ein, indem sie Russland einen Zivilisationsbruch in der Ukraine vorwirft. Bajohr fragt, ob nicht Begriffe wie Kriegsverbrechen ausreichten und warum „jedes Mal ein neuer Superlativ“ bemüht werden müsse? „Mit welchen Begriffen sollen wir dann zukünftig den deutschen Vernichtungskrieg im Osten und den Holocaust beschreiben?“