Ex-MdB Johannes Kahrs: Ein Sozialdemokrat, der auch brutal sein konnte
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/I5Y7WZ6KURFLZGQ33KLGYSUNRA.jpeg)
Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
wenn man sich im Bundestag umhört, ob die jüngsten Nachrichten über das langjährige SPD-Fraktionsmitglied Johannes Kahrs irgendjemanden überraschen, dann sind die Antworten eindeutig. „Mich nicht“, sagt ein Sozialdemokrat. Das Mitglied einer konkurrierenden Fraktion erinnert sich an den 58-jährigen Hamburger mit den Worten: „Er hat mit allen Tricks gearbeitet, das ist klar.“
Zuvor hatten die „Bild“-Zeitung und der NDR berichtet, die Kölner Staatsanwaltschaft habe in einem Schließfach, das Kahrs zugerechnet wird, 214.800 Euro sowie weitere 2400 US-Dollar gefunden. Dabei steht der Verdacht im Raum, dass er der Warburg-Bank in der Hansestadt womöglich half, Steuerschulden in Millionenhöhe nicht an die Finanzbehörden entrichten zu müssen.
Gewiss ist, dass sich Kahrs in der Warburg-Angelegenheit engagiert hat. Gewiss ist ebenso, dass er im Berliner Regierungsviertel einen Ruf wie Donnerhall genoss.
Mächtig und gefürchtet
Mancher achtete ihn wegen seiner Chuzpe. Viele – vornehmlich in der SPD – fürchteten ihn aber auch wegen seiner Rücksichtslosigkeit. Eines ist Kahrs schon lange nicht mehr: ein unbeschriebenes Blatt. Die linke „tageszeitung“ schrieb vor drei Jahren über den SPD-Genossen, der außerhalb Hamburgs und des Berliner Regierungsviertels eher keinen Namen hatte, er sei „einer der mächtigsten Politiker Deutschlands“.
Erstmals negative Schlagzeilen machte Kahrs, als er nachts mehrfach eine innerparteiliche Konkurrentin anrief – wohl, um sie einzuschüchtern. Der Fall landete vor Gericht – und der Anrufer kam mit einem Vergleich und einem blauen Auge davon. Das ist 30 Jahre her.
Vielen Dank für nichts!
Johannes Kahrs (SPD),
Ehemaliger Bundestagsabgeordneter, 2017 an Angela Merkel gerichtet
Nicht wenigen nötigte Respekt ab, dass Kahrs früher als andere im Politbetrieb zu seiner Homosexualität stand. Auch das tat er freilich nicht ohne eine gewisse Aggressivität. Als das Parlament im Sommer 2017 über die Ehe für alle abstimmte, schritt der SPD-Politiker ans Rednerpult und beschimpfte in einer langen Suada die damalige Kanzlerin Angela Merkel, die sich nie dafür eingesetzt habe – gipfelnd in der Bemerkung: „Vielen Dank für nichts!“ Unterdessen blickten auf der Regierungsbank selbst SPD-Ministerinnen und -Minister wie Andrea Nahles oder Sigmar Gabriel betreten nach unten. Alle wussten: Das war keine Rhetorik für die Galerie oder Social Media. Kahrs meinte es bitterernst.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/RMY5UCSGMCGORA4QPOVSOJUZBE.jpg)
Kurz vor dem ersten Jahrestag der Ehe für alle hat der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs (rechts) 2019 seinen Partner Christoph Rohde geheiratet.
© Quelle: dpa
Verhandler im Haushaltsausschuss
Bekannt war er in erster Linie als sogenannter Strippenzieher – in der Hamburger SPD, dem Seeheimer Kreis, in dem sich der rechte Flügel der SPD-Bundestagsfraktion versammelt, und im Haushaltsausschuss, in dem immer wieder über Millionen- und Milliarden-Beträge verhandelt und entschieden wird, ohne dass die Öffentlichkeit viel davon mitbekommt. Kahrs sorgte für Mehrheiten, im Zweifel zu den eigenen Gunsten, er „schuf Abhängigkeiten“, wie ein Insider sagt, machte politische Geschäfte, gilt unverändert als „guter Verhandler“. Er ging im Zweifel weiter als andere und agierte brutaler. Deshalb wollten sich auch wenige mit ihm anlegen.
Dennoch sprechen keineswegs alle schlecht über den Mann. Er sei immerhin stets direkt in den Bundestag gewählt worden, heißt es dort, habe auf Alkohol wie auf Luxus verzichtet und sei auch nie im eigentlichen Sinne ein Machtmensch gewesen. Stattdessen postete der Abgeordnete gern Fotos, die ihn mit Besuchern aus seinem Wahlkreis im Bus gen Berlin zeigten. Hier präsentierte sich einer zum Anfassen.
Johannes Kahrs ist ein widersprüchlicher Charakter mit dem Hang zu Grenzüberschreitungen – und jedenfalls keiner, der anderen viel Vertrauen einflößt. Als der Oberst der Reserve vor zwei Jahren sein Mandat niederlegte, angeblich weil er nicht Wehrbeauftragter geworden war, da glaubte das in Berlin niemand. Jetzt, wo das Bargeld aufgetaucht ist und gegen Kahrs ermittelt wird, drängt sich ein altes deutsches Sprichwort auf: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“
Bittere Wahrheit
Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen
Christian Lindner,
FDP-Vorsitzender und Bundesfinanzminister, über das 9-Euro-Ticket
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/TWFOXD4D7NDV5G2VPXGZEHPUMM.jpeg)
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP)
© Quelle: Michael Kappeler/dpa-Pool/dpa
Christian Lindner hat am Wochenende Aufsehen erregt – nicht zum ersten Mal in letzter Zeit. Zur Debatte über eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets sagte der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister: „Jeder Steuerzuschuss für ein nicht die Kosten deckendes Ticket bedeutet Umverteilung. Die Menschen auf dem Land, die keinen Bahnhof in der Nähe haben und auf das Auto angewiesen sind, würden den günstigen Nahverkehr subventionieren. Das halte ich für nicht fair.“ Dem liege eine „Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen“ zugrunde. Die politische Konkurrenz von links schäumt, die sozialen Netzwerke schäumen sowieso. Das ist nicht überraschend.
Zu denken geben sollte Lindner vielleicht, dass einem Bundestagsabgeordneten der Grünen, der der FDP durchaus wohlgesonnen ist, am Montag eine Parallele einfiel. Er erinnerte an Guido Westerwelle, der in seiner Funktion als FDP-Vizekanzler 2010 in der Debatte über eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze von „spätrömischer Dekadenz“ sprach. In einem drei Jahre später veröffentlichten Interview bereute Westerwelle diese Äußerung. Doch da war es längst zu spät. Im Herbst 2013 flogen die Liberalen aus dem Bundestag.
Wie das Ausland auf die Lage schaut
Die „Neue Zürcher Zeitung“ geht der Frage nach, ob Deutschland angesichts seiner Gasknappheit die Solidarität anderer EU-Staaten verdient hat:
„Die Idee der deutschen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die EU müsse sich mit Berlin solidarisch zeigen, war von Anfang an absurd. Der deutsche Gasnotstand ist das Ergebnis bewusster Entscheidungen und damit etwas anderes als der Corona-Notstand in Teilen Europas im Jahr 2020. Dieser war höhere Gewalt, jener ist schlechte Politik. In der EU galt bisher der Grundsatz, dass die Mitgliedsländer für ihre Fehler selbst geradestehen müssen. Niemand verteidigte dies eifriger als Finanzminister Wolfgang Schäuble, als Athen zum Sanierungsfall geworden war. Dass nun die Achse Brüssel–Berlin das Prinzip der Selbstverantwortung aushebeln wollte, zeigt, wie weit es mit der EU gekommen ist. Es zeigt auch, dass der europäische Musterknabe Deutschland einige Mitschuld am jetzigen Zustand trägt.“
Die slowakische Tageszeitung „Pravda“ schreibt zur Diskussion über die Fortführung des 9-Euro-Tickets in Deutschland:
„Analysten sprechen skeptisch von einem geringen ökologischen Effekt und langfristiger wirtschaftlicher Unhaltbarkeit des 9-Euro-Tickets. Die Reaktionen der Reisenden sind positiv, obwohl es unvermeidliche Kritik an überfüllten Zügen gab. Ist das also eine effektive Unterstützung für die Umorientierung der Gesellschaft vom individuellen zum kollektiven Verkehr? Das hängt davon ab, wie wir die Herausforderung annehmen. Zum Beispiel ist schon die Kritik an ‚überfüllten Zügen‘ nicht von Kritik an einer Politik zu trennen, die den Mangel an Zügen und Zugsverbindungen verursachte.
Zwar ist es höchst wahrscheinlich, dass sich eine Neun-Euro-Monatskarte langfristig nicht halten lässt. Sehr wohl aber ließe sich die grundsätzliche Lösung aufrechterhalten, mit radikalen Mitteln zum Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr zu motivieren und damit Druck auf den Individualverkehr auszuüben, der sich überlebt hat. In einer Welt, in der wir schon begonnen hatten, einen Flug in den Urlaub um 9 Euro normal zu finden, sollten wir uns eher die Frage stellen, wer sich eine Welt wünschte, in der Zugfahrten zu einem wirtschaftlichen Luxus geworden sind.“
Das ist auch noch lesenswert
Warum Cem Özdemirs jüngste Entscheidung ein Fehler ist - ein Kommentar
Wie Peter Altmaier das Ende seiner Amtszeit erlebte (+)
Weshalb die Grünen in der Atomdebatte in der Bredouille stecken (+)
Das „Hauptstadt-Radar“ zum Hören
Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Samstag wieder. Dann berichtet meine Kollegin Kristina Dunz. Bis dahin!
Herzlich
Ihr Markus Decker
Sie möchten uns Ihre Meinung zu den aktuellen Themen und Diskussionen in diesem Newsletter mitteilen? Oder möchten Sie Lob, Kritik und Anregungen mit uns teilen? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an hauptstadt-radar@rnd.de. Wir freuen uns auf Ihre Nachrichten. Wenn Sie keine Veröffentlichung wünschen, teilen Sie uns dies bitte in Ihrer E-Mail mit.
Mit RND.de, dem mobilen Nachrichtenangebot des RedaktionsNetzwerks Deutschland, dem mehr als 60 regionale Medienhäuser als Partner angehören, halten wir Sie immer auf dem neuesten Stand, geben Orientierung und ordnen komplexe Sachverhalte ein – mit einem KorrespondentenNetzwerk in Deutschland und der Welt sowie Digitalexperten aller Bereiche.