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Russland-Ukraine-Konflikt

Der Schock aus Moskau: 40 Minuten, die alles veränderten

Russland, Taganrog: Menschen aus den Regionen Donezk und Luhansk, die von einer prorussischen Separatistenregierung in der Ostukraine kontrolliert werden, verfolgen die Ansprache des russischen Präsidenten Wladimir Putin an ihrem vorübergehenden Aufenthaltsort in der Region Rostow am Don, Russland.

Russland, Taganrog: Menschen aus den Regionen Donezk und Luhansk, die von einer prorussischen Separatistenregierung in der Ostukraine kontrolliert werden, verfolgen die Ansprache des russischen Präsidenten Wladimir Putin an ihrem vorübergehenden Aufenthaltsort in der Region Rostow am Don, Russland.

Berlin. 40 Minuten lang hält Wladimir Putin einen Vortrag in seinem holzgetäfelten Arbeitszimmer, und danach ist die Welt eine andere. In New York, in Brüssel, in vielen Hauptstädten gibt es Krisensitzungen. Der UN-Sicherheitsrat kommt zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, beim Treffen der EU-Außenminister, die sich eigentlich mit Asien beschäftigen wollen, geht es plötzlich um ein anderes Thema. Bundeskanzler Olaf Scholz sagt Termine ab. In Österreich, in Paris, in Tokio tagen die Kabinette. In Kiew zieht sich die ukrainische Staatsführung in einen Konferenzsaal zurück und berät mehrere Stunden lang.

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Sieben Jahre nach der Annexion der ukrainischen Krim, nach monatelangem Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze, nach russischen Beschwichtigungen und Warnungen des Westens hat der russische Staatspräsident die ostukrainischen Teilrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängig anerkannt.

In seinem Arbeitszimmer im Kreml kündigt Putin den Schritt an. Es ist eine lange Herleitung, ein fast pausenloser Monolog, der bis zur russischen Revolution zurückgeht und zu deren Führer Wladimir Iljitsch Lenin. Die Ukraine sei „nie eine wahre Nation“ gewesen, sondern ein Marionettenstaat vor allem der USA, der demnächst vielleicht sogar wieder Atomwaffen besitzen werde. An der russischen Bevölkerung im Land würden Verbrechen verübt, und außerdem habe die Nato betrogen und sich entgegen Zusagen nach Osten ausgeweitet.

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In einer prächtigen weiß-gold verzierten Halle unterschreibt der 69-Jährige vor laufenden Fernsehkameras das Anerkennungsdokument, die Separatistenführer aus dem Donbass an seiner Seite, wichtige Minister als Zuschauer. Anschließend schickt Russland nach eigenen Angaben Truppen los Richtung Ukraine. Es gibt Filmaufnahmen von rollenden Lastwagen und Panzern.

Selenskyjs Ruhe

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj tritt noch in der Nacht zu Dienstag vor die Kameras. „Wir bleiben ruhig“, sagt er freundlich. Man werde mit „kühlem Verstand, gelassen und ausgewogen“ reagieren. Er deutet ein leichtes Lächeln an: „Gründe für schlaflose Nächte gibt es nicht.“ Bloß keine Hektik, keine Unruhe zeigen.

Auf der Sicherheitskonferenz in München hat Selenskyj noch am Wochenende darauf hingewiesen, wie sehr Unruhe und Kriegsszenarien das Land destabilisieren können. Wackelnde Banken, ausbleibende Investitionen, panische Bürger, das will Selenskyj verhindern. Er will Putin wohl auch nicht den Triumph gönnen, eingeschüchtert zu wirken. Auch Psychologie kann Strategie sein.

„Klug und umsichtig“ sei die Reaktion Selenskyjs, analysiert der Vizefraktionschef der FDP, Alexander Graf Lambsdorff, im Fernsehsender Phoenix. Er mache nicht denselben Fehler wie die georgische Regierung im Jahr 2008 im Konflikt um die georgischen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien, die sich mit Russlands Unterstützung lossagten. Georgien habe sich damals von Russland zu militärischen Aktionen provozieren lassen. Lange Auseinandersetzungen waren die Folge.

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Die Ukraine also bleibt demonstrativ gelassen: „Es gibt keinen Grund für chaotische Handlungen“, sagt Selenskyj. „Wir lassen uns nicht provozieren.“ Aber er betont auch: „Wir werden niemandem etwas abgeben.“ Hinter ihm hängt eine Karte der Ukraine. „Diese Grenzen bleiben so“, sagt Selenskyj bestimmt. Und er fordert die internationale Gemeinschaft auf zu helfen.

Ende des Minsker Abkommens?

Die reagiert schnell. Eine Regierung nach der anderen verurteilt das russische Vorgehen. Deutschland, die USA, Frankreich, Japan sprechen von einem Bruch des Völkerrechts: Die Souveränität und territoriale Integrität von Staaten müssten gewahrt bleiben.

Es handele sich um eine Invasion, verkünden die USA. Ihre Botschafterin bei den UN, Linda Thomas-Greenfield, erklärt in der Sicherheitsratssondersitzung, Russland habe „das Minsker Abkommen in Stücke gerissen“. Es ist eine ernüchternde Feststellung – das Minsker Abkommen galt bislang als zentrale Möglichkeit, den Konflikt doch noch irgendwie zu befrieden.

Auch aus Ländern, die als russische Verbündete gelten, kommen Absagen an Putin. Das türkische Außenministerium verkündet in einer Mitteilung: „Wir finden diese Entscheidung Russlands inakzeptabel und lehnen sie ab.“ Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, der vor einigen Tagen noch sehr freundschaftlich in Moskau vorgesprochen hat, äußert sich zwar nicht direkt zur Ukraine, lässt aber via Twitter wissen, dass er „den gemeinsamen Standpunkt der EU“ teile.

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Beistand von Syrien

Und selbst China, gerade noch erfreuter Gastgeber für Putin, hält sich zurück: In der Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats, wo China und Russland oft an einem Strang ziehen, ruft der chinesische Vertreter Zhang Jung zu Diplomatie auf. Man müsse nun „Zurückhaltung üben und jede Handlung vermeiden, die Spannungen anfachen kann“, sagt er.

Einige wenige Solidaritätsadressen gibt es: von der syrischen Regierung etwa, die nach wie vor einen Krieg gegen ihr eigenes Volk führt.

Russland, so scheint es, ist international weitgehend isoliert.

Und nicht nur das: Vor harten Konsequenzen haben US-Präsident Joe Biden, die EU und Bundeskanzler Olaf Scholz Putin für den Fall einer Aggression gegen die Ukraine gewarnt.

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Wenige Stunden nach den düsteren Ankündigungen aus dem Kreml gibt es die ersten Beschlüsse: Der britische Premier Boris Johnson, dessen Land nicht mehr in der EU ist, prescht mit der Ankündigung von Wirtschaftssanktionen vor. Die EU-Außenminister stimmen am Dienstagabend in Paris einem Sanktionspaket zu: Der Handel mit russischen Staatsanleihen soll ausgesetzt und der Freihandel mit Donezk und Luhansk gestoppt werden. Die Strafmaßnahmen sollen noch in dieser Woche nach Abschluss technischer Vorbereitungen in Kraft treten.

Konsequenzen gibt es wohl auch für mehrere Hundert Personen, Banken und Unternehmen in Russland, darunter die Duma-Abgeordneten, die für die Anerkennung von Donezk und Luhansk gestimmt haben. Für sie gibt es Einreiseverbote, Vermögen werden eingefroren.

Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2

Und in Berlin gibt es eine jähe Wende: Die Bundesregierung stoppt die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2, das deutsch-russische Projekt, für das sich insbesondere SPD-Politiker lange starkgemacht haben. Die Abkehr verkündet Bundeskanzler Olaf Scholz persönlich.

Er hat seinen irischen Kollegen Micheál Martin zu Gast. Der Antrittsbesuch wird ein paar Stunden vorverlegt und damit auch das Statement von Scholz: Es bleibt nicht viel Zeit für Forderungen an die Regierung, der Kanzler kann agieren und muss nicht reagieren.

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Scholz sagt ein paar freundliche Worte zu den deutsch-irischen Beziehungen, und dann ist er schon bei Russland. Sein Urteil ist klar. Russlands Vorgehen sei „einseitig, unverständlich und ungerechtfertigt“, sagt er. Und er listet auf: Bruch des Abkommens von Minsk, Bruch der UN-Grundprinzipien, Bruch der Helsinki-Grundakte. Knapp 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs drohe ein Krieg in Europa. „Wir müssen diese Lage neu bewerten – übrigens auch im Hinblick auf Nord Stream 2″, sagt Scholz.

Da ist es, das Wort, um das sich der Kanzler in den vergangenen Wochen so herumgewunden hat. Nun bremst er selbst mit. Das Wirtschaftsministerium zieht ein Dokument zurück, das Grundlage für die Pipelinegenehmigung ist.

Keine Waffen aus Deutschland

Weitere Sanktionen seien jederzeit möglich, sagt Scholz. Waffenlieferungen lehnt er weiter ab, Deutschland unterstütze die Ukraine finanziell und wirtschaftlich. Von Verhandlungen mit Russland spricht Scholz erst mal nicht mehr. Von Linkspartei und AfD kommt Kritik: Sanktionen würden die russische Politik nicht ändern, sagt Linken-Außenpolitiker Gregor Gysi. „In der Regel treffen sie die Bevölkerungen und kaum die Regierungen.“ Petr Bystron von der AfD warnt, Sanktionen führten zu weiterer Eskalation.

Wir werden unsere Nachbarländer – vor allem Polen – massiv unterstützen, sollte es zu Fluchtbewegungen kommen. Das betrifft insbesondere die humanitäre Unterstützung.

Nancy Faeser (SPD),

Bundesinnenministerin

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Andere sehen die Eskalation ohne Sanktionen: Selenskyj sagt, Russland habe sich eine „juristische Grundlage für eine weitere militärische Aggression“ geschaffen. Putin warte offenkundig darauf, dass die Ukraine sich provozieren lasse, um dann „die gesamte Ukraine zu besetzen“, bestätigt Scholz. Der Grünen-Europaabgeordnete Sergej Lagodinsky sieht in Putins Rede den Versuch einer imperialen Erzählung. „Das ist ein gefährlicher Vorbau für weitere aggressive Expansionen und Einmischungen in Russlands Umgebung“, sagt er dem RND.

In der Bundesregierung laufen bereits weitere Vorbereitungen. Die EU‑Kommission rechnet mit bis zu einer Million Flüchtlinge aus der Ukraine, US-Geheimdienste mit bis zu fünf Millionen. „Wir werden unsere Nachbarländer – vor allem Polen – massiv unterstützen, sollte es zu Fluchtbewegungen kommen. Das betrifft insbesondere die humanitäre Unterstützung“, sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dem RND. Zudem hätten die Sicherheitsbehörden Schutzmaßnahmen zur Abwehr etwaiger Cyberattacken hochgefahren.

In Moskau demonstriert die Regierung derweil politischen Alltag. An seinem meterlangen Verhandlungstisch empfängt Putin den aserbaidschanischen Staatschef Ilham Alijew, einen anderen autokratischen Herrscher. Russland habe die Unabhängigkeit ehemaliger Sowjetrepubliken immer gestützt, verkündet Putin bei dieser Gelegenheit.

Es gebe Spekulationen, dass Russland sein altes Imperium wieder herstellen wolle, sagt Putin. „Das entspricht überhaupt nicht der Wahrheit.“ Das mit der Ukraine, das sei eben etwas anderes: Sie werde „durch Drittländer verwendet, um Gefahren für die russische Föderation zu schaffen“.

Auf die Sanktionen hat zuvor schon Außenminister Sergej Lawrow reagiert: „Sind wir schon gewohnt“, hat er gesagt. Sein Ministerium betont, russische Soldaten seien in Donezk und Luhansk bislang nicht einmarschiert.

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