Darum sind die iranischen Frauen die Heldinnen des Jahres
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„Frauen. Leben. Freiheit“: Das ist der Schlachtruf der Iranerinnen, die wie diese junge Frau öffentlich ihre Kopftücher verbrennen.
© Quelle: picture alliance / abaca
Isfahan/Hamburg. Gleich nach dem Aufstehen, kurz vor dem Zubettgehen, immer dieselbe Frage: „Seid ihr da?“ Jeden Tag geht diese Frage in die Whatsapp-Gruppe von Lida Pachin und ihren Freundinnen. „Seid ihr da?“
Es ist nicht die Eröffnung einer Plauderei über Arbeit, Kinder, Partys. „Seid ihr da?“ ist der Code für „Lebt ihr noch? Seid ihr frei und könnt euch melden – oder ist eine von uns verhaftet worden? Ist eine von uns tot?“.
Wenn dann eine aus der Gruppe sich ein paar Tage nicht meldet, dann greift die Angst um sich. In Teheran und Isfahan, in Hamburg und Paris, überall, wo Iranerinnen leben.
Sie wissen zwar, dass das Regime im Zweifel nur wieder sämtliche Kommunikationswege unterbrochen hat. Sie wissen aber auch, dass die Mullahs und ihre Schergen jedes Telefonat, jede Nachricht überwachen. Ein falsches Wort, ein wie auch immer übermitteltes Bekenntnis „Ich bin Teil der Revolution“ kann lebensgefährlich sein. Für sie selbst und für jedes Mitglied ihrer Familien. Die Sippenhaft ist das schärfste Schwert der Despoten, die das iranische Volk seit 43 Jahren knechten.
Trotzdem machen die Frauen weiter. Und sind damit, nicht nur für das „Time Magazine“, das ihnen gerade diesen Titel verlieh, die „Heldinnen des Jahres“.
Obwohl – als Heldinnen fühlen sich längst nicht alle, die ihre vom islamistischen Regime vorgeschriebenen Kopftücher herunterreißen, sie verbrennen, laut auf den Straßen und Plätzen der Großstädte rufen: „Frauen. Leben. Freiheit“, „Tod dem Diktator“ und „Wir wollen die Islamische Republik nicht mehr“. Sie sehen nur keinen anderen Ausweg als den Aufstand. Sie haben Angst vor den Knüppeln und Schüssen der Polizei – aber noch mehr Angst davor, dass sie nie frei werden, wenn sie jetzt nicht weitermachen.
Wie Leyla (Name geändert), 21 Jahre alt, Medizinstudentin in Isfahan. In einem kurzen, nervösen Telefonat („Bitte keine E‑Mails, keine Whatsapp und lösche meine Nummer sofort, es ist gefährlich, mit dem Ausland zu reden“) sagt sie: „Ich habe jeden Tag Angst. Aber ich sehe das Leben meiner Mutter und das Leben der Männer, die fast genauso unfrei sind wie wir. Ich will jetzt mein Leben. Es ist genug.“
Der Tag, an dem alles „genug“ war, war der 16. September. An diesem Tag starb Jina Mahsa Amini, nachdem sie wegen eines „falsch“ sitzenden Kopftuchs von der Polizei in Teheran festgenommen und verprügelt worden war. Seither protestieren Hunderttausende fast täglich gegen das Regime. Obwohl bereits mindestens 18.000 Menschen verhaftet sind, Hunderte von der Polizei getötet, Hunderte gefoltert wurden. Obwohl in der vergangenen Woche zwei Demonstranten nach Scheinprozessen gehenkt wurden und eine Hinrichtungsliste des Justizministeriums mit 24 Namen bekannt wurde.
Frauen und Männer demonstrieren
Auch Frauen, die den Hidschab um ihrer Religion willen weiter tragen, den fundamentalistischen Staat aber ablehnen, sind unter den Demonstrierenden zu sehen. Auch Männer.
In den Städten der westlichen Welt tun es die Exil-Iranerinnen ihnen gleich. Sie schneiden sich wie ihre Schwestern in Teheran oder Isfahan öffentlich die Haare ab, zum Zeichen der Selbstbestimmung, und sie ziehen Woche für Woche mit Protestplakaten vor die Vertretungen der Islamischen Republik Iran. Sie haben den Widerstand zu einem Teil des Lebens in Europa gemacht. Viele von ihnen fühlen sich verpflichtet, ihr Leben in Freiheit zu nutzen und den Gefährdeten im Iran ihre Stimme zu leihen. Die Stimmen der Widerständlerinnen „in die Welt zu tragen“, wie Lida Pachin es nennt.
„Im Iran kämpfen sie mit bloßen Händen, werden vergewaltigt, brutalst gefoltert“, sagt die 43‑jährige Aktivistin aus Hamburg. „Sie haben null Prozent Sicherheit – ich habe hier in Deutschland 90 Prozent.“
Nur 90 Prozent? „Du weißt nie“, sagt Lida Pachin, „wer neben dir steht. Welche vermeintliche Mitkämpferin, welcher Beobachter in Wahrheit für das Regime arbeitet und Informationen weitergibt.“ Sie lebt damit. „Mein Blut ist nicht wertvoller als das der Frauen im Iran.“
Sorge um die Familie im Iran
Aber auch sie sorgt sich um Angehörige zu Hause, wenn sie sich exponiert, vor allem um die jungen, die sich dem Aufstand gegen die Mullahs angeschlossen haben. Obwohl sie selbst die längste Zeit ihres Lebens glühende Anhängerin des Religionsstaates war. Sogar in den ersten neun Jahren in Deutschland, wohin sie sich als 26-Jährige auf Vermittlung einer Tante mit einem ihr unbekannten jungen Iraner hat verheiraten lassen.
„Als Schülerin haben mich meine Freundinnen ausgelacht, weil ich so regimetreu war.“ Schon damals habe es ja immer wieder öffentlichen Protest gegen den Staat gegeben – aber sie selbst habe alles verteidigt. „Ich habe ihnen gesagt, dass die religiösen Führer am besten wissen, was für uns gut ist. Dass sie uns beschützen und dass der Westen den Iran nur zerstören will, weil der Iran das beste und erfolgreichste Land der Welt ist.“
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Demonstration an der Kletterwand: Exil-Iranerinnen protestieren in einer Boulderhalle in Brandenburg gegen die aktuelle Politik im Iran.
© Quelle: IMAGO/Mauersberger
Sie hat lange festgehalten an diesem Glauben. Bis die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ im Juni 2014 in Teilen des Iraks und Syriens ein Kalifat ausrief. „Da habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen, welches brutale Unrecht im Namen meiner Religion begangen wird. Ich habe recherchiert und recherchiert – und irgendwann verstanden, dass mein Staat mich enteignet hat, als er meine Religion gegen mich verwendet hat.“
Erst mit 37 und unter Schmerzen hat sie das Kopftuch als äußeres Symbol der Unfreiheit abgelegt. Gerade deshalb bewundert sie die junge Generation in ihrer Heimat. „Wie in der ganzen Welt gibt es auch im Iran eine Generation Z, die ist wirklich mutiger. Meine viel jüngeren Cousinen und Cousins haben so viel Verstand, sie denken anders. Sie sind vernetzt und wissen längst: Die Welt ist anders, als es die Mullahs ihnen zeigen. Es geht nur um Macht.“
Doch das ist nicht die ganze Geschichte. „Dies ist nicht allein der Aufstand der Jungen“, sagt die Studentin Leyla. Ihre Mutter, die wie die Tochter und ihre eigene Mutter zuvor in Isfahan Medizin studiert hatte, war gleich nach Aminis Tod auf der Straße. Die Tochter wusste nichts davon, der hatte sie es verboten. „Meine Mutter wollte nicht, dass ich in Gefahr komme – sie wollte allein für meine Zukunft kämpfen. Jetzt gehen wir zusammen.“
Das ist ein großer Schritt. Er steht für eine große Veränderung in der iranischen Gesellschaft insgesamt. Schon lange entscheiden sich viele iranische Paare dafür, nur ein Kind zu haben – weil sie sich in der desolaten Wirtschaftslage nicht mehrere leisten können. Das Kind soll es gut haben. Um nichts fürchten die Eltern in diesem Staat mehr als um dieses eine Kind.
Der letzte große Aufstand vor diesem, in dem wütende Bürgerinnen und Bürger das Regime herausforderten, war im November 2019. Damals sind innerhalb eines Monats 1500 Menschen hingerichtet worden. Aber: Hinter jedem einzelnen dieser Toten steht eine ganze Familie, die entweder nichts mehr zu verlieren hat – oder nicht noch einmal einen geliebten Menschen verlieren will.
Es gibt nichts zu verlieren
Und deshalb ist in diesem Jahr etwas anders als bei allen anderen Aufständen zuvor. Der Widerstand geht durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Es gibt nichts zu verlieren.
Das erfährt auch Lida Pachin aus den Nachrichten in ihrer Whatsapp-Gruppe. Wenn jemand bei den Protesten oder in Polizeigewahrsam umkommt, ist es unter Androhung schwerer Strafe verboten, öffentlich zu machen, wo und wann er oder sie beerdigt wird. „Aber die Menschen sagen jetzt: Na und – wir halten uns nicht an dieses Verbot. Es gibt Videos von der Beerdigung. Und dann gibt es mehr Menschen, die sich der Bewegung anschließen.“ Es sind persönlicher Mut oder auch einfach Erschöpfung, die diesem Aufstand so viel Wucht geben, glaubt Lida Pachin. Und sie glaubt: „Wir können diese Revolution gewinnen – wenn die Regierungen anderer Länder uns helfen.“
Haben die Frauen gewonnen, wenn ein Leben ohne ständige Gängelei durch Sittenwächter möglich ist, wenn ihre Stimme vor Gericht nicht nur halb so viel zählt wie die eines Mannes, wenn Sohn und Tochter gleichberechtigt erben, wenn die selbstständige Mutter von Leyla nach dem Tod ihres Mannes nicht einen Onkel als Vormund vorgesetzt bekommt, wenn alle ihre Meinung sagen können? Wenn das Regime also Zugeständnisse macht? Wenn es den Frauen, wie die es spöttisch nennen, „Schokolade schenkt“?
„Nein“, sagt Leyla, plötzlich mit fester Stimme. „Wir haben gewonnen, wenn die Mullahs gestürzt sind.“
Kurz darauf bricht das Telefonat ab. Warum auch immer. Später meldet sich Leyla noch einmal. Sie benutzt den Code des Widerstands: „Ich bin noch da.“