„Unsere Mitarbeiterinnen in Afghanistan arbeiten mobil von zu Hause“
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Afghanische Schulmädchen besuchen am ersten Tag des neuen Schuljahres ihren Klassenraum in Kabul.
© Quelle: Ebrahim Noroozi/AP/dpa
Thorsten Schäfer-Gümbel ist seit November 2022 Vorstandssprecher der staatlichen Entwicklungsorganisation Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Der 53-Jährige hat Agrar- und Politikwissenschaft studiert und war mehr als 15 Jahre für die SPD in Hessen und in der Bundespolitik tätig. Die GIZ, die 25.000 Beschäftigte hat, übernimmt im Auftrag der Bundesregierung weltweit Entwicklungsprojekte.
Herr Schäfer-Gümbel, die Ampelregierung proklamiert eine feministische Entwicklungspolitik, aber an der Spitze der staatlichen Entwicklungsorganisation GIZ steht neuerdings ein Mann. Wie passt das zusammen?
Es geht um Gleichberechtigung in einer Welt der Ungleichheit. Dazu können und müssen Frauen und Männer einen Beitrag leisten. Mein Führungsverständnis ist darauf ausgerichtet. Das darf in einem so großen Unternehmen mit 25.000 Mitarbeitenden und einer enormen Vielfalt auch nicht anders sein. Ein patriarchalisches Führungsverständnis ist mit dem Selbstverständnis der GIZ und meinem persönlichen unvereinbar.
Was bedeutet für Sie feministische Entwicklungspolitik?
Lassen Sie es mich ganz praktisch machen: Ohne die zentrale Einbeziehung und Förderung von Frauen wird es uns nicht gelingen, den Hunger auf der Welt erfolgreich zu bekämpfen. Es sind hauptsächlich Frauen, die auf den Feldern arbeiten und die sich um die Ernährung ihrer Familien kümmern. Kanada und die skandinavischen Länder praktizieren die feministische Außen- und Entwicklungspolitik schon seit Jahren erfolgreich. Es ist richtig, dass wir nun folgen. Die Kritik daran ist häufig kleinlich. Man könnte auch sagen: unterkomplex.
Die staatliche deutsche Entwicklungshilfe stellt bereits seit einigen Jahren verstärkt Frauen in den Mittelpunkt der Arbeit. Also alles nur alter Wein in neuen Schläuchen?
Sie haben recht: Die Gleichstellung der Geschlechter steht heute schon im Fokus der deutschen Entwicklungspolitik. Aber es gibt da noch Luft nach oben. Das Ziel von Entwicklungsministerin Svenja Schulze, bis 2025 den Anteil der neu zugesagten Projektmittel dafür auf 93 Prozent anzuheben, erreichen wir bei der GIZ noch nicht. Wir liegen derzeit bei etwa 80 Prozent. Das ist vergleichsweise hoch, aber wir werden uns alle anstrengen müssen, um das Ziel tatsächlich zu erreichen.
Welche Projekte müssen umgestellt oder beendet werden, um die Quote zu erreichen?
Hier tut sich im Moment unheimlich viel: Wir verzeichnen ein großes Interesse unserer Auftraggeber, Gleichstellungsziele noch stärker in Projekten zu verankern. Ebenso kommen viele Ideen und Anfragen aus den Partnerländern. Wir müssen hier keine Überzeugungsarbeit leisten. Die GIZ ist flexibel und prüft bei neuen Vorhaben und laufenden Projekten, ob und wie wir Inklusion und Gleichstellung ausbauen können. Es werden aber keine Projekte aufgrund dieser Kriterien vorzeitig beendet.
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Svenja Schulze: „Wer Kinderarbeit zulässt, muss verklagt werden können“
Das deutsche Lieferkettengesetz gilt Kritikern als nicht streng genug. Die EU-Kommission will deutlich schärfere Regelungen durchsetzen. Entwicklungsministerin Svenja Schulze im RND-Interview zur Haltung der Ampelkoalition in dieser Frage.
Können Sie Beispiele für Projekte mit einem Gleichstellungsziel nennen?
Im April startet ein neues Vorhaben in Serbien, das sich um die Inklusion benachteiligter Menschen in 20 Gemeinden kümmert – und das mit großer Unterstützung des serbischen Partnerministeriums. Alleinerziehende Mütter oder auch Angehörige der Roma-Minderheit sollen beispielsweise bessere Jobchancen bekommen. Gleichzeitig bieten die Gemeinden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder oder Unterstützung bei der Pflege von Angehörigen. Das Vorhaben baut auf den Erfahrungen zweier vorangegangener Projekte auf und hat jetzt noch mehr die Inklusion von Frauen und benachteiligten Gruppen im Blick.
Schwierige Probe Afghanistan
Afghanistan ist die Nagelprobe, ob so eine Politik in der Praxis funktioniert. Wie ist die Lage dort, nachdem die Taliban Ende 2022 Frauen die Mitarbeit in Nichtregierungsorganisationen verboten hatten und Deutschland daraufhin die Hilfe vorübergehend eingestellt hat?
Die Entwicklungen in Afghanistan sind eine schwere Belastung vor allem für Frauen und Mädchen und bleiben inakzeptabel. Es wäre gleichwohl hochproblematisch, die Unterstützung für Frauen und Mädchen zu beenden. Die Konsequenzen erleiden nämlich die Frauen und Mädchen. Insofern teile ich die Entscheidung der Bundesregierung, sich unter engen Voraussetzungen weiter in Afghanistan zu engagieren. In Afghanistan ist die Mitarbeit von afghanischen Frauen sehr wichtig, um Frauen und Mädchen überhaupt erreichen zu können. Sie leiden besonders stark unter der humanitären Krise und den Restriktionen.
NGOs stellen Arbeit in Afghanistan ein
Die Taliban-Regierung hatte am Samstag alle in- und ausländischen NGOs angewiesen, ihrem weiblichen Personal bis auf Weiteres den Gang zur Arbeit zu untersagen.
© Quelle: Reuters
Aber wie können Sie vor Ort arbeiten?
Internationale Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter sind basierend auf den Vorgaben des Auswärtigen Amts derzeit nicht vor Ort, wir arbeiten in der sogenannten Fernsteuerung. Wir stimmen uns eng mit unseren Auftraggebern ab – auch, was das aktuelle Arbeitsverbot für Frauen aus UN-Organisationen betrifft. Die GIZ hat weiterhin nationales Personal vor Ort, darunter auch Frauen. Sie arbeiten derzeit mobil von zu Hause aus. Die Ausgangslagen unterscheiden sich partiell in den verschiedenen Regionen. Ich bitte um Verständnis, dass wir aus Sicherheitsgründen nicht konkreter werden.
Können Sie Projektbeispiele nennen?
Derzeit sind dies ausschließlich Projekte, die die Grundbedürfnisse der afghanischen Bevölkerung sichern. Es werden beispielsweise Leitungen repariert, um Haushalte mit Wasser zu versorgen oder Saatgut und Lebensmittelpakete ausgegeben, damit die Menschen ihre Familien ernähren können. Unser Auftraggeber achtet besonders darauf, dass Frauen und Mädchen von den Projekten profitieren.
Arbeitet die GIZ direkt mit den Taliban zusammen?
Nein. Die GIZ realisiert Projekte ausschließlich regierungsfern mithilfe von afghanischen Nichtregierungsorganisationen.
Welche Projekte hat die GIZ beendet?
Der Auftraggeber gibt den Rahmen für die Projekte vor, die die GIZ in Afghanistan umsetzt. Auf Wunsch des Bundesentwicklungsministeriums wurden zwei beauftragte Projekte nicht begonnen. Dabei handelt es sich um Projekte, die sich mit beruflicher Bildung, Beschäftigungsförderung, sozialer Sicherung und ländlicher Energieversorgung beschäftigt hätten.
Entwicklungshilfe in einer krisenhaften Zeit
Die Corona-Krise, der Klimawandel und lokale Konflikte sorgen dafür, dass immer mehr Staaten extrem geschwächt oder sogar vom Zerfall bedroht sind. Wie verändert das die Entwicklungshilfe?
Krisen sind unser Alltag und Frieden braucht Entwicklung. Eine Mehrheit unserer Einsatzländer sind fragile Länder – Tendenz steigend. Mittlerweile arbeitet gut die Hälfte der weltweit entsandten Beschäftigten in fragilen Kontexten. Das tun unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr wirkungsvoll. Die GIZ schult zum Beispiel darin, Landwirtschaft in Konfliktgebieten zu betreiben, sie fördert Unternehmerinnen und Unternehmer oder sorgt dafür, dass es Unterricht in Geflüchtetencamps gibt.
Die Rückschritte sind weltweit sind so groß, dass die UN-Entwicklungsziele, unter anderem die Überwindung des Hungers auf der Welt bis 2030, voraussichtlich gar nicht mehr erreichbar sind. Muss man sich nicht ehrlich machen und sie anpassen?
Richtig ist, dass viele Entwicklungsfortschritte durch die aktuellen Krisen verloren gehen. Die sich überlagernden Krisen und nicht zuletzt die Auswirkungen aus dem Angriffskrieg Russlands beeinflussen die globale Entwicklung und damit auch die Entwicklungszusammenarbeit, denn für eine wachsende Zahl Menschen im globalen Süden geht es um die nackte Existenz. Heute gibt es 150 Millionen Menschen mehr, die unter Hunger leiden, als vor der Pandemie. Über 100 Millionen Menschen sind auf der Flucht, so viele wie nie zuvor. Entwicklungszusammenarbeit ist deshalb heute wichtiger denn je. Es wäre höchst gefährlich, die UN-Ziele jetzt infrage zu stellen. Im Gegenteil: Wir dürfen keinesfalls nachlassen und müssen das Tempo sogar steigern. Der Klimawandel erhöht den Druck immens.
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Die deutsche Entwicklungshilfe bekommt absehbar eine neue Aufgabe: Die Gewinnung von Fachkräften. Sind Sie vorbereitet?
Wir stehen bereit, denn wir haben schon Erfahrungen auf dem Gebiet, etwa bei der Anwerbung von Pflegekräften. Wir trauen uns zu, hier in einem größeren Rahmen aktiv zu werden, wenn uns die Regierung dazu beauftragt.
Allerdings besteht immer auch die Gefahr des Braindrains, also eines Absaugens von Fachkräften zum Nachteil der Herkunftsländer. Wie kann das verhindert werden?
Wir arbeiten sehr eng mit Ministerien, Behörden und Institutionen im Arbeits-, Bildungs- und Migrationsbereich in den Partnerländern zusammen, um reguläre Arbeitsmigration langfristig zu ermöglichen. Nehmen Sie das Programm „Triple Win“, eine Kooperation der Bundesagentur für Arbeit mit der GIZ. Wir arbeiten dabei ausschließlich mit Ländern zusammen, in denen es viele arbeitslose Pflegefachkräfte gibt. „Triple Win“ wirbt keine Arbeitskräfte ab, die vor Ort benötigt werden und orientiert sich bei der Auswahl der Partnerländer unter anderem am Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation. Es geht dabei um eine faire Partnerschaft. Aus Serbien zum Beispiel vermitteln wir seit 2020 keine Pflegekräfte mehr nach Deutschland, weil dort nunmehr ebenfalls Personalmangel herrscht.