Kaum Hilfsgüter

Experten: Lage in Syrien nach Erdbeben weiter „katastrophal – es fehlt an allem“

Zwei Flugzeuge mit EU-Hilfsgütern sind am Sonntag in Damaskus gelandet (Archivbild).

Zwei Flugzeuge mit EU-Hilfsgütern sind am Sonntag in Damaskus gelandet (Archivbild).

Damaskus. Nach den verheerenden Erdbeben sind am Sonntag die ersten beiden Flugzeuge mit EU-Hilfsgütern in der syrischen Hauptstadt Damaskus gelandet – 20 Tage nach der Naturkatastrophe. Die Maschinen der humanitären Luftbrücke für Syrien lieferten unter anderem winterfeste Zelte, Ausrüstung für Unterkünfte und Heizgeräte, teilte die EU-Kommission mit.

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Die Lage im syrischen Erdbebengebiet ist aber weiterhin extrem angespannt, wie zwei Experten gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) erklären.

„Die kritische Situation hat sich unermesslich verschlechtert“

„Die Aufräumarbeiten und die Abdeckung der kritischen Bedarfe sind nicht zu vergleichen mit der augenblicklichen Situation in der Türkei“, sagt Thomas Weiß, Leiter der Nahostabteilung von Malteser International, dem RND am Montag. Syrien sei aufgrund von Zugangsproblemen, aber auch wegen der geringen lokalen Verfügbarkeit der notwendigen Hilfsgüter in einer ganz schwierigen Situation. Das sei auch schon vor dem Erdbeben so gewesen. „Durch das Erdbeben sind die Bedarfe jedoch multipliziert worden. Die kritische Situation für die vielen Millionen direkt betroffenen Menschen vor Ort hat sich unermesslich verschlechtert“, betont Weiß.

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Die Malteser International erhalten Informationen über die Lage vor Ort aus erster Hand. „Wir führen seit 2014 Projekte und Programme über unsere Partnerorganisationen in Nordwestsyrien durch. Über unser Team im Süden der Türkei sind wir im täglichen Austausch mit den syrischen Hilfsorganisationen“, sagt der Experte. Im syrischen Erdbebengebiet selbst seien keine Kräfte der Malteser International.

Thomas Weiß (Mitte), Leiter der Nahostabteilung von Malteser International, im August 2022 in Nordwestsyrien.

Thomas Weiß (Mitte), Leiter der Nahostabteilung von Malteser International, im August 2022 in Nordwestsyrien.

Erdbebenhilfe in Syrien abhängig von lokalen Märkten

Die politische Situation (seit 2011 herrscht in Syrien ein Bürgerkrieg) erschwere die Arbeit der Hilfskräfte in Nordwestsyrien enorm. „Wir können keine Hilfsgüter von den vom Regime kontrollierten Gebieten in den Nordwesten Syriens schicken. Es hängt alles von den Verfügbarkeiten der lokalen Märkte ab“, erklärt Weiß.

Die wenigen Hilfsorganisationen, die in Nordwestsyrien arbeiten, seien von den wenigen geöffneten Grenzübergängen, wie dem zwischen der türkischen Provinz Hatay und der syrischen Region Idlib, abhängig. „Die Hilfskräfte hoffen auch darauf, dass über andere temporär geöffnete Grenzübergänge Hilfsgüter transportiert werden können. Das ist momentan der Fall, aber im Vergleich zu den kritischen Bedarfen vor Ort ist das ein Tropfen auf den heißen Stein“, bekräftigt Weiß.

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Malteser International fordert: Politik muss auf Damaskus einwirken

Deshalb sei es wichtig, dass sich die Politik einbringt. „Es wäre vonseiten der EU, der Bundesregierung und von anderen westlichen Partnern wichtig zu versuchen, auch politisch auf Damaskus einzuwirken, um den Fluss von notwendigen Hilfsgütern nach Nordwestsyrien zu erleichtern.“ Es gebe 4,1 Millionen Menschen im nordwestlichen Teil Syriens, die direkt abhängig von weitergehender humanitärer Hilfe seien.

„Auf der syrischen Seite gibt es Bedarfe, die aufgrund der lang anhaltenden politik- und kriegsbedingten Notsituation nicht vernünftig gedeckt werden können. Wir hoffen, dass aufgrund der neuen, sehr kritischen Lage ein Ruck durch die Politik geht und dementsprechend mehr Hilfe nach Nordsyrien kanalisiert wird“, betont Weiß.

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Erdbebenopfer leiden unter der Kälte

Am dringendsten benötigt werden laut des Experten Zelte und Strukturen, die den Menschen ein Dach über dem Kopf bieten. „Das ist aktuell noch ein ganz großes Problem. Da gibt es massive Versorgungsengpässe auf den lokalen Märkten.“ Wichtig seien auch Hilfsgüter wie Generatoren, Wärmequellen und Treibstoff, wie sie die EU mit ihren beiden Hilfsflügen geliefert hat. „Da fehlt es auch an allem“, sagt Weiß. Weitere benötigte Hilfsgüter seien Matratzen, Hygieneartikel und Kleidungsstücke.

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Am meisten leiden die Menschen vor Ort unter dem kalten Winter. „Während des Erdbebens um den 6. Februar herum lagen die Tagestemperaturen um den Gefrierpunkt, nachts herrschten Minusgrade. Unter den winterlichen Bedingungen leiden die Menschen unheimlich – in Syrien wie in der Türkei“, erklärt der Leiter der Nahostabteilung von Malteser International. Zumindest in den vergangenen Tagen hätten sich die Temperaturen etwas entspannt.

Nahostexpertin zur humanitären Lage in Syrien: „Es fehlt an allem“

Die Nahostexpertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) beschreibt die Lage im syrischen Erdbebengebiet als „katastrophal“. „Es fehlt an allem, nicht zuletzt an schwerem Gerät, das es zur Bergung von Verschütteten gebraucht hätte, sowie zu den Aufräumarbeiten. Bislang ist sehr wenig internationale Hilfe vor Ort angekommen“, sagt Asseburg am Montag gegenüber dem RND.

Die Nahostexpertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Die Nahostexpertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Warum es so lange gedauert hat, bis die Flugzeuge mit EU-Hilfsgüter in Syrien angekommen sind, darüber könne sie nur spekulieren, sagt die Nahostexpertin. Allerdings ergebe es nur wenig Sinn, dass die Flugzeuge in Damaskus landen. „Sie werden im Norden des Landes gebraucht, vor allem in der Provinz Idlib, nicht in Damaskus. Die Chance, dass die Hilfe auch dort ankommt, wo sie am meisten gebraucht wird, ist leider gering“, meint Asseburg.

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Der Großteil der internationalen humanitären Hilfe laufe aber eben über Hauptstadt, erklärt sie. „Damaskus verteilt diese vor allem nach Gesichtspunkten politischer Loyalität, nicht nach Bedürftigkeit“, kritisiert die Expertin. Somit komme Hilfe zum Beispiel in Aleppo an, das im vom Regime kontrollierten Gebiet liegt, aber kaum in den auch von den Erdbeben betroffenen Provinzen Idlib und Qamishli, die unter anderer Kontrolle stehen (HTS und AANES).

„Wir sehen derzeit eine intensive Erdbebendiplomatie“

Die Erdbebenkatastrophe habe direkte Auswirkungen auf die Bürgerkriegssituation in Syrien, so Asseburg. Sie beschleunige die Normalisierung des Regimes in Damaskus in der Region und darüber hinaus. „Wir sehen derzeit eine intensive Erdbebendiplomatie – am Montag ist etwa der ägyptische Außenminister al-Shukri in Damaskus – und Signale von Regionalmächten wie Saudi-Arabien, die darauf hindeuten, dass man das Assad-Regime nicht länger isolieren möchte.“

Dieser Trend werde von Russland unterstützt: Schon in den letzten Monaten habe Moskau eine Annäherung von Ankara und Damaskus vorangetrieben. „Es dürfte dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad mittelfristig helfen, seine Kontrolle zu konsolidieren. Aber von einer Konfliktregelung im Nordwesten und Nordosten bleibt das Land weit entfernt und die Ursachen der Protest- und Aufstandsbewegung 2011 sind nicht beseitigt worden, sondern haben sich im Gegenteil weiter zugespitzt“, erklärt die Nahostexpertin. Normalisierung sollte daher nicht mit Befriedung verwechselt werden.

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Weitere EU-Hilfsflüge nach Syrien sollen folgen

Nach den beiden gelandeten Hilfsfliegern sollen weitere folgen, teilte die EU-Kommission am Sonntag weiter mit. Die Flugzeuge würden Hilfe aus EU-Lagern in Dubai sowie Brindisi in Italien für die Bevölkerung sowohl in den von der Regierung kontrollierten als auch in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten bringen.

Insgesamt werden den Angaben zufolge über diese Luftbrücke 420 Tonnen Hilfsgüter geliefert. 225 Tonnen davon im Wert von 1,1 Millionen Euro kämen aus EU-eigenen Beständen. Zusätzlich hätten Deutschland und 14 weitere europäische Länder Hilfe angeboten, nachdem Syrien den EU-Katastrophenschutzmechanismus aktiviert hatte. Insgesamt habe die EU bislang mit humanitärer Hilfe im Wert von 10 Millionen Euro auf die Erdbebenfolgen in Syrien reagiert. Mehr als 6 Millionen Euro davon seien im Rahmen laufender humanitärer Projekte umgewidmet worden.

Mehr als 50.000 Tote in der Türkei und Syrien

Am 6. Februar hatten zwei Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und den Nordwesten Syriens erschüttert. Antakya im äußersten Süden der Türkei nahe der syrischen Grenze gehört zu den Orten, die besonders stark zerstört wurden. Mehr als 50.000 Menschen sind in der Türkei und Syrien durch die Katastrophe gestorben. Davon den aktuellen Angaben zufolge 44.374 Tote in der Türkei und 5900 Tote in Syrien. Die Dunkelziffer liegt wohl deutlich höher. Nach UN-Angaben sind rund 29 Millionen Menschen in beiden Ländern betroffen, etwa die Einwohnerzahl der Metropolen Istanbul, New York, Paris und Berlin zusammen.

Die Region kommt unterdessen noch immer nicht zur Ruhe. Am Samstag traf ein Beben der Stärke 5,2 die zentralanatolische Provinz Nigde in der Türkei, wie die Erdbebenwarte Kandilli mitteilte. Das Epizentrum lag demnach im Bezirk Bor. Von syrischen Stellen wurden innerhalb von 24 Stunden insgesamt mehr als 60 Nachbeben erfasst, wie das Erdbebenzentrum des Landes am Samstag mitteilte. Die Phase der Nachbeben könne noch zwei Jahre andauern, hieß es von der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad. Auf die Hauptbeben folgten demnach bereits mehr als 9000 Nachbeben.

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Mit dpa-Material

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