Experten zu russischen Maßnahmen: Atomare Macht Russlands nicht unterschätzen
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Könnte Russland doch Atomwaffen einsetzen? Bild: Eine mit Nuklearsprengköpfen bestückbare Interkontinentalrakete vom Typ Topol wird auf einer Rüstungsmesse präsentiert.
© Quelle: -/YNA/dpa
Osnabrück. Russlands Präsident Wladimir Putin hat die Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten angekündigt. Diese Nachricht sorgte sowohl im Westen, als auch in Russland für Aufruhr. So bewerten Experten die Lage.
Der Militärhistoriker Bastian Matteo Scianna von der Universität Potsdam sagte gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ), dass die Teilmobilmachung zeige, dass Putin „zunächst konventionelle Mittel einsetzen möchte, um die militärische Situation zu seinen Gunsten zu verbessern“. Die russische Drohung atomarer Militärschläge sollte man Scianna zufolge aber dennoch nicht unterschätzen.
„Jeder, der kampffähig ist“ wird mobilisiert
Der Russland-Experte Stefan Meister sieht die Teilmobilmachung des Kremls als „weitere Richtungsentscheidung“ im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Russland werde trotz jüngst erlittener Niederlagen „nicht deeskalieren oder in eine Form von Waffenstillstandsverhandlungen eintreten“, sondern vielmehr weitere Teile der russischen Bevölkerung in den Krieg hineinwerfen, sagte der Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am Mittwoch. Mobilisiert würden nicht nur junge Männer, sondern im Prinzip „jeder, der kampffähig ist“ und vor kurzem eine Ausbildung gemacht habe oder in der Reserve sei.
„Massiver Druck auf die Bevölkerung“ bei Schein-Referenden
Scianna warnt gegenüber der NOZ außerdem davor, einen Einsatz taktischer Kernwaffen „als komplett unrealistisch“ abzutun. Schließlich sei es Teil der russischen Nukleardoktrin, „eigenes Gebiet immer auch mit Kernwaffen zu verteidigen“. Die Maßnahmen, die aus Russland aktuell getroffen werden, zeigten, dass der russische Präsident „nicht nur tatenlos zuschauen wird“, wenn er ukrainisches Land wieder verliere.
Ab Freitag sollen in den von Russland besetzten Regionen der Ukraine die Einwohnerinnen und Einwohner über den Beitritt ihrer Region zu Russland abstimmen. Die Abstimmungen in Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja seien Scianni zufolge dazu gedacht, das Narrativ zu stärken, „der Westen bedrohe russische Gebiete, und man beschütze die lokale Bevölkerung und sichere die territoriale Integrität“ des Landes. Die Ukrainer würden mit einer Offensive so vermeintlich russisches Gebiet treffen – „was etwaige Gegenmaßnahmen für Putin einfacher und populärer machen soll“, sagt Scianni der NOZ.
In den für Russland reklamierten Gebieten könne man laut Meister dann auch „Atomwaffen oder zumindest atomwaffenfähige Raketen“ stationieren. „Letztlich geht es darum, dass man die besetzten Gebiete integriert durch dieses Fake-Referendum und dann damit dort auch Wehrpflichtige stationieren kann“, erklärt Meister. Die Scheinreferenden würden unter „massivem Druck auf die Bevölkerung stattfinden“, betont Meister. „Das hat nichts mit einem demokratischen oder freien Referendum zu tun.“ Auch eine freie Arbeit internationaler unabhängiger Beobachter ist bei solchen Scheinreferenden nicht möglich.
Russischer Präsident „politisch in der Defensive“
Meister glaubt indes nicht, dass sich die Ukraine sich von der neuen Eskalation Russland demotivieren lasse. „Und die Leute, die jetzt eingezogen werden, sind auch nicht unbedingt die Bestausgebildetsten und Kampffähigsten.“ Es könne Wochen oder gar Monate dauern, bis sie alle einsatzfähig seien. Bis dahin könne die Ukraine noch ganze Landesteile zurückerobert haben.
Zudem gerate Putin in Russland selbst zunehmend unter Druck, gibt Meister zu bedenken. Das Regime erwarte mehr Widerstand aus der eigenen Bevölkerung, der innere Rückhalt schwinde. „Umso mehr die russische Gesellschaft in diesen Krieg hineingezogen wird, umso mehr Opfer, auch Tote auch zurückkommen aus der Ukraine, umso größer wird der Druck sein auf Putin. Ich sehe hier nicht, dass Putin da gut rauskommen wird aus diesem Krieg“, sagte Meister. Vielmehr werde er innenpolitisch noch weiter unter Druck geraten. Auch Scianni ist sich sicher: „Der russische Präsident ist „politisch in der Defensive“.
RND/dpa/ots/hb