Frankfurter Paulskirche – die Wiege der Demokratie in Deutschland?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/H6H4XEF3OVAC7KTMFB5L5ZY2YU.jpg)
Die Paulskirche in Frankfurt am Main ist ein als Ausstellungs-, Gedenk- und Versammlungsort genutzter ehemaliger Kirchbau.
© Quelle: picture alliance / greatif
Frankfurt a. M./Halle. Für die Deutschen war es ein langer Weg, bis sie die politischen Geschehnisse ihrer Heimat mitbestimmen durften. Während die Engländer die Geschichte ihres Parlamentes – Stichwort Magna Charta – bis ins Mittelalter zurückverfolgen und die Franzosen 1793 ihren König köpften, reicht die Erinnerung eines demokratischen Deutschlands oft nur in die Adenauer-Ära zurück.
Insbesondere die erste parlamentarische Instanz auf nationaler Ebene wird oft von ihrem schnellen Ende her betrachtet: Die Frankfurter Nationalversammlung, die erstmals vor 175 Jahren tagte, am 18. Mai 1848.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/YDV2VVCH6BBWVHYNGHRROQBZW4.jpg)
Politik mit Pomp: Am 18. Mai 1848 tritt die Deutsche Nationalversammlung in der geschmückten Paulskirche In Frankfurt am Main zusammen. (Kolorierter Holzstich, um 1890).
© Quelle: akg-images
Gotteshaus als Parlament: Warum trafen sich die Abgeordneten in der Paulskirche?
Eigentlich trafen sich die anfangs 382 Abgeordneten im Kaisersaal des Frankfurter Römers. Aus Platzgründen wechselten die Delegierten der 28 noch ungeeinten deutschen Staaten dann schnell in den einzigen Versammlungsraum, der der wachsenden Zahl an Delegierten ausreichend Raum bot: die Paulskirche.
Der Sakralbau war selbst kaum älter als das Parlament, das in ihr bis zum Mai 1849 tagen sollte. Ein runder klassizistischer Bau mit dreigeschossigem Turm. 600 Abgeordnete stritten hier um die Geschicke der Nation, fanden sich in Fraktionen zusammen und repräsentierten von Links bis Rechts das gesamte politische Spektrum. So weit, so plural, so demokratisch?
Saßen 1848 wirklich Demokraten in der Paulskirche?
„Wer das Parlament in der Paulskirche als Meilenstein oder Wiege der deutschen Demokratie feiert, verkennt die Ambivalenz dieser Versammlung“, sagt Theo Jung, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Als Demokraten hätten sich damals nur die Abgeordneten der extremen Linken verstanden. „Während sich die meisten Vertreter für eine konstitutionelle Monarchie einsetzten, forderten nur wenige eine republikanische Ordnung und ein allgemeines Wahlrecht – allerdings auch nur für Männer.“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/VHTX7UPVDVGXXPTHTXLYWUFR7I.jpg)
Theo Jung, Professur für Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: „Wer das Parlament in der Paulskirche als Meilenstein oder Wiege der deutschen Demokratie feiert, verkennt die Ambivalenz dieser Versammlung“
© Quelle: Uni Halle / Maike Glöckner
Eingeschränktes Wahlrecht: Wer durfte vor 175 Jahren mitbestimmen?
Aus heutiger Sicht erscheinen Parlament und Demokratie wie zwei Seiten einer Medaille. 1848 sah das anders aus: Nur „selbständige“ Männer durften wählen, Frauen überhaupt nicht. Und was „selbständig“ meinte, entschied jeder deutsche Teilstaat für sich, erklärt Jung.
Zudem repräsentierten die Parlamentarier keineswegs die Zusammensetzung der Gesellschaft: Die meisten Abgeordneten waren Akademiker, vor allem Juristen aber auch Beamte, Schriftsteller, Journalisten und Ärzte. Auch Prominente wie „Turnvater“ Jahn und Märchensammler Jacob Grimm nahmen auf den Bänken Platz. Zehn Mitglieder kamen aus dem Handwerk – damit in etwa so viele wie im Bundestag 2023. Arbeiter waren keine vertreten.
Nur wenige Vertreter forderten eine republikanische Ordnung und ein allgemeines Männerwahlrecht.
Theo Jung
Professor für Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Meilensteine: Was waren die Verdienste der Versammlung in der Paulskirche?
Bei all den Unzulänglichkeiten der Paulskirchenversammlung dürfe man jedoch auch die Errungenschaften nicht vergessen. „Damals wurde die erste gesamtdeutsche Verfassung verabschiedet und man bekannte sich zu den Grundrechten“, sagt Jung.
Dass die Versammlung schließlich scheitern sollte, ändere nicht, dass „zu Beginn vieles möglich war“. Außerdem sei das aus heutiger Sicht lückenhafte Wahlrecht für die damalige Zeit sehr fortschrittlich gewesen, erklärt der Historiker. Doch warum scheiterte das erste gesamtdeutsche Parlament eigentlich?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/3733WDXN3NE5RE3BYIRLV75ISQ.jpeg)
Zweite Wahl: Ursprünglich sollte die Versammlung im Frankfurter Römer tagen, aus Platzgründen wich man auf die Paulskirche aus, wo man unter einem symbolischen Gemälde der „Germania“ zusammenfand.
© Quelle: dpa
Ende der Mitbestimmung: Warum scheiterte das Parlament der Paulskirche?
Dafür gebe es viele Gründe, sagt Jung. „Die wichtigsten sind wohl aber, dass die einzelnen revolutionären Gruppen keinerlei Einigkeit finden konnten.“ Außerdem hätten sich große Teile der Versammlung durch vermeintliche Zugeständnisse der alten Mächte täuschen lassen.
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, lehnte die Kaiserkrone ab, die ihm das Parlament verleihen wollte. Damit war der Traum einer gesamtdeutschen konstitutionellen Monarchie geplatzt. Aus Angst vor einem Einmarsch Preußens floh das Parlament nach Stuttgart. Dort wird es durch württembergisches Militär aufgelöst. Die erste nationale Demokratie der Deutschen findet ein gewaltsames Ende. Und die Paulskirche?
Bombenhagel und Gebete: Was geschah nach 1849 mit der Paulskirche?
Das Parlamentsgebäude wurde wieder zu einem Gotteshaus. Seit den 1850er Jahren fanden dort wieder Gottesdienste statt, der letzte im März 1944. Dann fiel das Bauwerk britischen Brandbomben zum Opfer.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Kirche wieder aufgebaut. Äußerlich im alten Glanz, doch im Inneren spartanisch – nicht zuletzt aus Materialmangel. Und genau das ist in den letzten Jahren wieder zum Politikum geworden.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/IFMFHIHIGBARRLAJZ34FH5CZ5U.jpg)
Die Ruine der Frankfurter Paulskirche, aufgenommen am 17.01.1947.
© Quelle: picture-alliance/ dpa
Sanierungsfall und Kontroverse: Welche Zukunft hat die Paulskirche?
Die Paulskirche ist sanierungsbedürftig. Und sollte man das nicht zum Anlass nehmen, auch das prachtvolle Innere wiederherzurichten? Nach Jahren des Streites hat eine Expertenkommission im April 2023 ihre Empfehlung vorgelegt: Auf eine historische Rekonstruktion soll verzichtet werden. Verbindlich ist das jedoch nicht, weshalb die Diskussion weitergeht. So fragt man sich jüngst in der „Zeit“: „Warum nicht eine Teilrekonstruktion wagen?“
Theo Jung blickt mit einem Lächeln auf diese Debatte. „Ich genieße diesen lebendigen Streit, schließlich sieht man in ihm, welche politische Relevanz diesem Gebäude beigemessen wird.“ Denn zweifelsohne sei die Paulskirche ein bedeutender symbolischer Ort der deutschen Geschichte, nur eben „nicht primär“ der deutschen „Demokratiegeschichte“.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/VKTK7MHLCZC5DLTTJ27BCM6KZ4.jpeg)
Bau der vielen Zwecke: Die Funktion der Paulskirche wechselte in ihrer 190-jährigen Geschichte von Gotteshaus zu Parlament zu Gotteshaus und dient heute als Ort für besondere Anlässe, etwa zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels.
© Quelle: Arne Dedert/dpa
Lehren aus der Geschichte: Das Vermächtnis der Paulskirche
War das Paulskirchen-Experiment das bloße Scheitern einer Pseudodemokratie oder können wir aus den Erfahrungen von 1848/49 lernen? Glaubt man Theo Jung, so ist diese Frage falsch gestellt.
Denn vermutlich zeige gerade das Ende der Paulskirchenversammlung, worauf es auch in unserer politischen Ordnung immer wieder ankomme: „Pluralität in eine Form zu gießen, die dennoch Stabilität ermöglicht.“ Eine Herausforderung, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt beinahe alltäglich auf die Probe stellt: Ganz gleich, ob es um den klimapolitischen Umbau von Heizungsanlagen geht, um das Für und Wider des Genderns – oder um die Restauration einer Kirche an den Ufern des Main.