Größte Gefahr durchs höchste Gericht
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Der Oberste Gerichtshof der USA in Washington: Bringt er demnächst Amerikas Demokratie ins Wanken, statt sie zu stabilisieren?
© Quelle: Wikipedia / BY SA 3.0
Liebe Leserinnen und Leser,
eigentlich soll das höchste amerikanische Gericht Freiheit und die Demokratie sichern. In diesem Herbst wächst jedoch die Sorge, die neun Richter und Richterinnen – derzeit sind es fünf Männer und vier Frauen – könnten bald genau das Gegenteil tun.
Willkommen zur neuen Ausgabe von „What’s up, America?“. Diesmal beschreiben wir zu Beginn ein Thema, das in den Massenmedien noch keine großen Schlagzeilen macht, aber hinter den Kulissen bereits für enorme Anspannung sorgt.
In seiner neuen Rechtsprechungssaison, die am 3. Oktober begonnen hat, wird der Supreme Court sich mit dem Allerheiligsten der amerikanischen Demokratie befassen, dem Wahlrecht. Zu klären ist dabei einmal mehr, wie viel Macht in die einzelnen Bundesstaaten wandert.
Schon beim Thema Abtreibung gefiel es bekanntlich dem konservativ dominierten Obersten Gericht, die Bundesstaaten mehr denn je selbst entscheiden zu lassen. Das am 24. Juni dieses Jahres verkündete neue Supreme-Court-Urteil, mit dem eine liberale bundesweite Regelung aus dem Jahr 1973 (Roe versus Wade) aufgehoben wurde, macht extrem strenge Regelungen auf Bundesstaatsebene möglich. Kritikerinnen und Kritiker sprechen von einem Flickenteppich und von chaotischen Verhältnissen.
Ein Albtraum namens ISL-Theorie
Jetzt droht Ähnliches beim Wahlrecht. Liberale Juristen warnen, es könnte ein rechtliches Durcheinander entstehen, das am Ende das gesamte demokratische System der USA ins Wanken bringt. Im Extremfall drohe eine albtraumhafte Situation, in der nach der Präsidentschaftswahl 2024 keine Verständigung auf ein nationales Wahlergebnis mehr möglich sei.
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Im Jahr 2020 ernannte der damalige Präsident Donald Trump die Juristin Amy Coney Barrett zur Richterin am Supreme Court – jetzt erhofft er sich von ihr Unterstützung für die ISL-Theorie.
© Quelle: imago images/MediaPunch
Schon seit Langem begeistern sich einige Juristen am rechten Rand des politischen Spektrums für eine radikale juristische Betrachtungsweise namens Independent-State-Legislature-Theorie (ISL-Theorie). Danach wäre das Parlament jedes einzelnen Bundesstaats die höchste Instanz bei allen dort anstehenden Streitigkeiten ums Wahlrecht. Ist die Auszählung umstritten, könnte das Bundesstaatsparlament also auch festlegen, wie die Wahl ausgegangen ist.
Dass Donald Trump ein glühender Anhänger der ISL-Theorie ist, liegt auf der Hand: Eine solche Konstruktion hätte es ihm möglich gemacht, nach dem Wahlsieg Joe Bidens seine Anfechtungsversuche mit aus der Luft gegriffenen Argumenten in republikanisch dominierten Staaten erfolgreich durchzusetzen – nicht durch Sachargumente, sondern durch schlichten politischen Druck auf die republikanischen Abgeordneten in der jeweiligen Kammer.
Wohin das Oberste Gericht mehrheitlich tendiert, ist unklar. Viele Fachleute fanden es bereits alarmierend, dass die neun Richter sich überhaupt auf die Erörterung eines Falles aus North Carolina (Moore versus Harper) eingelassen haben, in dem es auf die ISL-Theorie ankommt. Fest steht nur eins: Was bisher nach reiner Rechtstheorie klingt, kann in der Praxis über die Frage entscheiden, wer am Ende ins Weiße Haus einzieht.
Von Deutschland lernen?
Eigentlich spricht alles dagegen, dass der Supreme Court sich auf irgendwelche radikalen Betrachtungsweisen oder gar verfassungsrechtlichen Experimente einlässt. Schon das jüngste Abtreibungsurteil hat seinem eigenen Ansehen nicht gut getan. Mehr denn je steht das höchste Gericht des Landes im Verdacht, einer Partei, den Republikanern, zu dienen. Nach einer Septemberumfrage des angesehenen Instituts Gallup sank das Vertrauen der Amerikaner in den Supreme Court binnen zwei Jahren von 67 auf 47 Prozent. Das ist der niedrigste Wert seit fünf Jahrzehnten.
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Auch drei Monate nach dem Supreme-Court-Urteil zur Abtreibung gibt es fast täglich in den USA Proteste dagegen – wie diese Aktion von Aktivistinnen am 5. September vor dem Gerichtsgebäude in Washington.
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Inzwischen kommt auch die nach internationalem Maßstab eigentümliche Machtfülle der amerikanischen Verfassungsrichter ins Gerede. Problematisch und aus der Zeit gefallen sei schon die Benennung der Supreme-Court-Richter und ‑Richterinnen auf Lebenszeit, hieß es am vergangenen Wochenende im Fernsehsender CNN. Kommentator Fareed Zakaria, ein amerikanischer Europakenner, empfahl den USA als Alternative das Modell Deutschland.
Tatsächlich ist in Deutschland alles auf Ausgewogenheit getrimmt. Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht brauchen zur Ernennung eine parteiübergreifende Mehrheit in Richterwahlausschüssen. Ihre Amtszeit beträgt zwölf Jahre und es gibt eine Altersgrenze von 68. Auf diese Art, glaubt Zakaria, könnten sich auch die USA zwei Zielen gleichzeitig nähern: mehr Professionalität und weniger Radikalität am höchsten Gericht.
Der Sender ABC News übrigens widmete sich schon vor drei Wochen dem Thema Supreme Court und der ISL-Theorie. Es war ein Beitrag zu einer laufenden ABC-Serie unter dem Titel „Demokratie in Gefahr“.
Facts and Figures: Sanibel – das zerstörte Paradies
Arthur Frommer, Amerikas bekanntester Reisejournalist, wurde gegen Ende eines langen Berufslebens gefragt, welche Urlaubsziele weltweit für ihn persönlich die Top Ten sind. Auf den ersten Platz setzte er Sanibel Island in Florida, noch vor Bali und Paris.
Sanibel ist in der Tat betörend schön. Den anderswo in Florida üblichen hektischen Plastiktourismus findet man hier nicht. Familien, die als Urlauber kommen, mieten Häuser für mindestens einige Wochen. Sanibel hilft bei der Entdeckung der Langsamkeit: Leuchtende Strände voller weißer Muscheln laden ein zu ewigen Spaziergängen, in großen Teilen der Insel führen Vögel und Alligatoren in einem Naturschutzgebiet ihr Eigenleben. Fast-Food-Ketten gibt es nicht auf Sanibel. Spezielle regionale Vorschriften (zoning laws) verbieten den Bau von Häusern, die höher sind als die daneben stehenden Palmen.
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Der Weg ins Paradies ist blockiert: Die US‑Küstenwache veröffentlichte am 1. Oktober 2022 dieses Bild vom Sanibel Causeway, der Landverbindung zwischen der Insel Sanibel und Fort Meyers.
© Quelle: IMAGO/UPI Photo
Jetzt hat Hurrikan „Ian“ die Insel bis auf Weiteres wieder komplett der Natur übergeben. Sanibel ist aktuell für Menschen unbewohnbar. Strom und Wasser sind ausgefallen, die Autoverbindung über den Causeway zum Festland ist zerstört. Hauseigentümer, die per Fähre übersetzen, blicken auf Ruinen.
Viele planen zwar bereits Neubauten, doch das wird viele Jahre dauen. Quer durch Florida werden die Schäden auf mehr als 60 Milliarden Dollar geschätzt. Auf Sanibel indessen ist jetzt Unwiederbringliches verschwunden, zum Beispiel der leicht verwitterte Charme von Restaurants wie George & Wendy’s Sanibel Seafood Grille. Dort strömten nach Sonnenuntergang nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische zusammen, gut gelaunt und lässig, bei Livemusik und 20 verschiedenen Biersorten auf der Karte. Wie alles sein wird, wenn die Neubauten eröffnet werden, weiß niemand.
Popping up: eigenes Kunstwerk auf Zuruf
Was soll man machen, wenn ein virtuell erschaffenes Bild schöner und beeindruckender ist als echte Malerei? Die Kunstwelt kaut schon seit einiger Zeit auf dieser Frage herum und kommt zu keinem rechten Schluss. Alle aber haben eine dumpfe Ahnung: Der Trend geht weg vom Realen.
Der Bildgenerator Dall-E 2 zum Beispiel entwickelt durch künstliche Intelligenz alle möglichen Arten von Bildern – und ist nun erstmals für alle Interessenten weltweit zugänglich. Der „Künstler“ muss lediglich mit Wörtern beschreiben, was er auf dem Bild sehen will. Die KI bastelt dann ein hochauflösendes Dokument, das technisch gesehen von Fotos nicht zu unterscheiden ist.
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Besser, schlechter oder genauso gut wie echte Kunst? Bilder aus dem Generator Dall-E.
© Quelle: Joe Fedewa / Dall-E
In der „Washington Post“ beschrieb die Techreporterin Nitasha Tiku mit unverkennbarem Staunen die neuen Möglichkeiten. Und sie ließ auch nicht aus, dass sich die Menschheit auf diesem spielerisch leichten Weg hinaus aus dem Realen in neue Gefahrenzonen begeben könnte. Denn nicht nur Kunstwerke lassen sich mit künstlicher Intelligenz erzeugen, sondern auch Dokumente, die aussehen, als könnten sie etwas beweisen, Fotos von Straftaten etwa.
Kann man, wenn sich Szenen aller Art generieren lassen, noch irgendeine angeblich von einer Kamera festgehaltene Pixelkonfiguration als etwas Reales anerkennen?
Manche Experten sehen einen historischen Wendepunkt. Seit Jahrtausenden hätten die Menschen „stets dem vertraut, was sie sehen“, sagt Wael Abd-Almageed, Professor von der School of Engineering der University of Southern California. „Sobald die Grenze zwischen Wahrheit und Fälschung erodiert ist, wird alles zur Fälschung. Wir werden nichts mehr glauben können.“
Deep Dive: Läuft der dritte Weltkrieg schon?
Susan Glasser hat im Magazin „The New Yorker“ einen Aufsatz geschrieben, den man nicht so schnell vergisst. Titel: „Was, wenn wir den dritten Weltkrieg mit Russland bereits führen?“
Glasser hat lange in Moskau für die „Washington Post“ gearbeitet. Aber auch für eine Russland-Expertin, die schon viel gesehen und erlebt hat, addieren sich die jüngsten Aktivitäten von Wladimir Putin zu einer neuen Qualität: nukleare Drohungen, illegale Annexion von Territorien, Mobilmachung Hunderttausender russischer Männer und dann auch noch die rätselhafte Explosion von Gaspipelines auf dem Meeresgrund. „Nach endlosen Spekulationen“, schreibt Glasser, „können wir es jetzt mit Sicherheit sagen: So reagiert Wladimir Putin, wenn er in die Ecke gedrängt wird.“
Wie aber reagiert der Westen darauf, dass er nun ebenfalls bedroht wird? Die Regierungen in Europa und in den USA reden ungern darüber. Unermüdlich betont US‑Präsident Joe Biden, sein Ziel sei es, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen und gleichzeitig sicherzustellen, dass der Sieg keinen dritten Weltkrieg auslöst. An dieser Stelle hakt Glasser ein: „Es ist alles andere als klar, wie Washington weiterhin beide Ziele gleichzeitig verfolgen kann.“
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Lautes Nachdenken über „eine mögliche Antwort“ auf einen russischen Atomschlag in der Ukraine: David Petraeus, früherer US‑General und früherer CIA-Chef.
© Quelle: dpa
Müssen nicht auch die USA den Russen drohen? Jake Sullivan, Sicherheitsberater von Joe Biden, scheint dies bereits getan zu haben und sprach von drohenden „katastrophalen Folgen“ für Russland.
Wie „eine mögliche Antwort“ auf einen russischen Atomschlag in der Ukraine konkret aussehen könnte, skizzierte am Wochenende im Fernsehsender ABC der frühere US‑General und CIA-Chef David Petraeus: Vernichtung sämtlicher russischer Einheiten und Einrichtungen in der Ukraine durch einen mächtigen, aber wohlgemerkt konventionellen Gegenschlag – bei dem allerdings auch gleich sämtliche russischen Schiffe im Schwarzen Meer versenkt werden könnten.
Glasser berichtet in ihrem Aufsatz über ein Gespräch mit der renommierten Russland-Expertin Fiona Hill, die im Weißen Haus die Präsidenten George W. Bush und Barack Obama beraten hat. Nach Einschätzung von Hill enthalten die westlichen Beteuerungen, man wolle einen Konflikt mit Putin vermeiden, „ein Element der Selbsttäuschung“. Laut Hill, schreibt Glasser, „kämpfen wir bereits im dritten Weltkrieg, ob wir es anerkennen oder nicht“.
Way of Life: Schluss mit Rasenmähen
Man kennt das Bild aus unzähligen amerikanischen Vorstädten: Einfamilienhäuser, freistehend zwar, aber doch Reihe an Reihe, jedes mit einer eigenen kleinen Auffahrt und jedes mit einem – selbstverständlich zu allen Zeiten korrekt gemähten – Rasen.
An diesen Verhältnissen zerrt jetzt der Wind des Wandels. Mehr Amerikanerinnen und Amerikaner denn je, schreibt die Nachrichtenagentur Associated Press, zweifelten am Sinn des Rasens und am Sinn des Mähens. Manche sehen im traditionellen Rasen neuerdings einen Anachronismus, andere gar eine Bedrohung der Biodiversität. Und so sprießen plötzlich vor den Häusern Blumen, Obstbäume und sogar Gemüsebeete.
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Abschied vom gepflegten Rasen: Vorgarten in Westchester County, New York.
© Quelle: AP
Ökologen applaudieren dem neuen Trend: Mehr Pflanzenvielfalt sei exakt die richtige Reaktion auf die Dürre und auf das Insektensterben der letzten Jahre. Soziologen deuten auf einen im Hintergrund waltenden weiteren Faktor: Viele Amerikaner verbrächten wegen Homeoffice mehr Zeit denn je zu Hause – und ihnen sei das bloße Rasenmähen schlicht zu langweilig. Viele wollten jetzt interessantere, vielschichtigere Gärten.
Dennis Liu von der E.‑O.-Wilson-Biodiversity-Stiftung sagt, er fand „die Fixierung vieler Amerikaner auf die kleine, aber sauber gehaltene grüne Fläche“ immer schon eigentümlich: „Das ist unser englisches Erbe.“
Der nächste USA-Newsletter erscheint am 18. Oktober. Bis dahin: Stay sharp – and stay cool!
Ihr Matthias Koch
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