Kommentar

Italiens Flüchtlingspolitik – wenn Hetze tödlich wird

Spielzeuge vor einigen der Särge, die im italienischen Crotone in einer Sporthalle gesammelt werden.

Spielzeuge vor einigen der Särge, die im italienischen Crotone in einer Sporthalle gesammelt werden.

Rom. Am Donnerstag ist Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella nach Kalabrien gereist, um den Opfern des Schiffbruchs vom Sonntag vor Ort ihre letzte Ehre zu erweisen. Er stand minutenlang stumm vor den in der Sporthalle von Crotone in Reih und Glied aufgestellten Särgen der 68 Toten, die bisher geborgen wurden. Zuvor hatte das 81-jährige Staatsoberhaupt, die wichtigste moralische Instanz des Landes, im Krankenhaus der süditalienischen Stadt die Flüchtlinge besucht, die das Unglück am Strand von Cutro überlebt haben, aber von den Trümmern des Schiffs verletzt worden sind. Den verwundeten Kindern – eines von ihnen hat bei dem Bootsdrama offenbar beide Eltern verloren – hat Mattarella aus Rom als kleines Geschenk Spielzeug mitgebracht. Mindestens 30 der Flüchtlinge, die sich auf dem Boot befanden, werden immer noch vermisst.

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Am gleichen Tag, an dem Mattarella in Kalabrien weilte, hat der Staatsanwalt von Crotone Ermittlungen aufgenommen, bei denen abgeklärt werden soll, warum die Flüchtlinge nicht gerettet wurden, obwohl sie, wie der örtliche Kommandant der Küstenwache betonte, durchaus hätten gerettet werden können. Warum, fragt sich in Italien nicht nur der süditalienische Staatsanwalt, hat niemand Alarm geschlagen, obwohl über dem Ionischen Meer vor Kalabrien ein Sturm mit Stärke acht tobte und obwohl schon mehrere Stunden vor dem tragischen Schiffbruch praktisch feststand, dass es sich bei dem Objekt, das ein Flugzeug der europäischen Grenzschutzagentur Frontex in der Nacht 40 Kilometer vor der kalabrischen Küste gesichtet und den italienischen Behörden gemeldet hatte, um ein Boot mit möglicherweise Hunderten von Flüchtlingen an Bord handelte?

Die Ermittlungen stehen erst am Anfang – aber unabhängig davon, ob es beim Unglück zu strafrechtlich relevanten Versäumnissen gekommen ist, steht bereits fest, dass es Politiker gibt, die moralisch zumindest eine Mitverantwortung für das Drama trifft: rechte Populisten und Hetzer wie Lega-Chef Matteo Salvini und der neue Innenminister Matteo Piantedosi, die die Seenotrettung herabgewürdigt und kriminalisiert haben. Salvini hatte, als er selber noch Innenminister war, im Jahr 2019 nicht nur den Schiffen privater Hilfsorganisationen zum Teil wochenlang die Einfahrt in italienische Häfen verweigert, sondern – eigentlich ein unfassbarer Vorgang – sogar den Schiffen der eigenen Küstenwache. Die einzige „Schuld“, die die Crews der privaten und staatlichen Schiffe auf sich geladen hatten, bestand darin, dass sie Flüchtlinge an Bord hatten, denen sie zuvor das Leben gerettet hatten.

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Von Rettern zu kriminellen Komplizen

Dieses Klima hat bei der Küstenwache psychologische Spuren hinterlassen, wie ein kürzlich pensionierter Admiral dieser einst angesehenen Einheit, Vittorio Alessandro, in diesen Tagen bestätigte: Früher sei man stolz darauf gewesen, jedes Jahr Zehntausende Menschenleben gerettet zu haben, und man habe öffentliche Anerkennung dafür erhalten. Heute werde die Küstenwache – zusammen mit den NGOs – als „Taxis der Meere“ und „Komplizen der Schlepperbanden“ verunglimpft. Die Stimmungsmache ist so extrem, dass sogar die Fotos der Seenotrettungen aus den Kalendern der Küstenwache verschwunden seien, sagt der Admiral. Für ihn ist es „offensichtlich“, dass die Verunglimpfung und Kriminalisierung der Retter der tiefere Grund dafür sei, dass niemand dem Flüchtlingsboot zur Hilfe geeilt ist.

Überreste des zerschellten Bootes am Strand Steccato di Cutro in Kalabrien.

Überreste des zerschellten Bootes am Strand Steccato di Cutro in Kalabrien.

Wie sehr sich die Debatte um die Bootsflüchtlinge inzwischen politisch und moralisch in Richtung des Unsäglichen verschoben hat, zeigten auch einige Reaktionen nach dem Drama in Kalabrien. Innenminister Piantedosi hielt den Toten eine Moralpredigt und warf ihnen vor, mit ihrer Flucht das Leben ihrer Kinder aufs Spiel gesetzt zu haben. Als wäre die Flucht vor Krieg, Folter und Tod, vor Hunger und Armut eine Art Zeitvertreib, den man auch lassen könnte. Vittorio Feltri wiederum, Chefredakteur der rechtslastigen Zeitung „Libero“ und regionaler Abgeordneter von Ministerpräsidentin Giorgia Melonis postfaschistischer Partei Fratelli d‘Italia, hielt es für besonders geistreich, ein italienisches Sprichwort zu zitieren: „Wegfahren ist immer auch ein wenig Sterben. Bleibt zu Hause.“

Mehr Zynismus angesichts der Toten von Kalabrien geht nicht mehr. Und vielleicht ist Mattarella – bewusst oder unbewusst – auch deshalb nach Cosenza gereist: um der Macht der zynischen Worte die noch stärkere Macht der erschütternden und anklagenden Bilder entgegenzusetzen. Angesichts von aufgereihten Särgen – darunter vielen Kindersärgen – verblassen die Herkunft, Hautfarbe und Motive derer, die in ihnen liegen. In den Särgen liegen plötzlich ganz einfach Menschen. Menschen, die gestorben sind auf dem Weg zu uns, wo sie Schutz suchten. Es wäre schön, wenn diese Bilder noch eine Weile wirken und vielleicht zu einem Innehalten in der immer unmenschlicher werdenden Migrationsdebatte führen würden. Das würde das Finden einer Lösung des epochalen Problems der Flüchtlingsströme möglicherweise erleichtern, in Italien und anderswo.

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