Antikriegsprotest im Livefernsehen

Russische Journalistin Owsjannikowa: „Die Lügen, der Zynismus – das war nicht mehr zu ertragen“

Marina Owsjannikowa, frühere Mitarbeiterin des staatlichen Fernsehsenders Perwy-Kanal, die nach einem Protest gegen die russische Militäroperation in der Ukraine im Fernsehen aufhörte, sitzt in einem Gerichtssaal vor einer Anhörung.

Marina Owsjannikowa, frühere Mitarbeiterin des staatlichen Fernsehsenders Perwy-Kanal, die nach einem Protest gegen die russische Militäroperation in der Ukraine im Fernsehen aufhörte, sitzt in einem Gerichtssaal vor einer Anhörung.

Berlin. Die russische TV-Journalistin Marina Owsjannikowa (48) wurde weltberühmt, als sie sich am Abend des 14. März 2022 plötzlich in die Livesendung „Zeit“ des Moskauer Staatssenders Erster Kanal stürzte und ein selbst gemaltes Plakat in die Kamera hielt, auf dem zu lesen war: „No War. Glauben Sie der Propaganda nicht. Sie werden hier belogen. Russen gegen den Krieg“. Millionen Zuschauer wurden Zeugen dieses ungeheuerlichen Vorgangs drei Wochen nach Russlands Überfall auf die Ukraine.

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Nach der Aktion, die nur sechs Sekunden dauerte, begann für Owsjannikowa eine Odyssee zwischen Anerkennung und Verdächtigung, zwischen Zuspruch und Demütigung, Hilfsbereitschaft und Denunziation, die sie jetzt in ihrem Buch „Zwischen Gut und Böse – wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte“ (Langen-Müller-Verlag München) beschreibt.

Das Buch endet mit ihrer abenteuerlichen Flucht aus Russland nach Paris, wo sie sich derzeit aufhält und wo das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) mit ihr per Videoschalte sprechen konnte.

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Frau Owsjannikowa, wie geht es Ihnen, fühlen Sie sich in Paris sicher?

Danke, es geht mir ganz gut. Ich wollte Russland nicht verlassen und bin so lange geblieben, bis mir gute Freunde gesagt haben, dass ich um mein Leben fürchten muss. Hier in Paris fühle ich mich sicher, und ich bin der Organisation Reporter ohne Grenzen sehr dankbar, dass sie mir geholfen hat, Russland zu verlassen. Die Kollegen haben mir und meiner elfjährigen Tochter Arisha sozusagen das Leben gerettet.

In Ihrem Buch beschreiben Sie auch Ihre abenteuerliche Flucht aus Moskau. Man kann dem Kontext entnehmen, dass es über Finnland ging. War es so?

Aus Sicherheitsgründen kann ich Ihnen nicht sagen, wo genau meine Fluchtroute verlief. Aber ich kann sagen, es war nicht über Nordkorea und nicht über China. (lacht)

Der ukrainische Soldat Anatoly Kaliman (23) wurde am 15. Tag des russischen Angriffskrieges durch eine Granate schwer verletzt. Er wurde mehrfach in Greifswald operiert und wartet nun auf eine Prothese. Bislang wurden 33 Ukrainer in Kliniken von MV behandelt, davon 31 Soldaten und zwei krebserkrankte Frauen.

Ukrainischer Soldat in deutscher Klinik: „Wir müssen Russland besiegen“

Anatoly Kaliman gehörte zu einem Aufklärungstrupp und wurde kurz nach der russischen Invasion durch eine Granate verletzt. Mehr als 30-mal wurde der Ukrainer bereits operiert und wartet in Deutschland nun auf eine künstliche Hüfte. Anschließend will der 23-Jährige wieder zurück zum Militär.

Was war für Sie der entscheidende Moment, die Seite zu wechseln, von einem Propagandakanal hin zu einer protestierenden Journalistin, die das System anprangert?

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Das war der Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Die ganzen Lügen, der Zynismus – das war nicht mehr zu ertragen. Mir wurde klar, dass eine weitere Arbeit als Journalistin in Russland nichts mehr mit Ehrlichkeit zu tun hat, vor allem im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine.

Wenn man dort weiterarbeitet, unterschreibt man einen Vertrag mit der Wurzel des Übels. Solange Putin und seine Gefolgschaft an der Macht sind, wird es keine unabhängigen Reporter und keine unabhängigen TV-Sender mehr geben.

Sind Sie die einzige Reporterin, die dem Propagandaapparat den Rücken gekehrt hat?

Es hat im März 2022 eine große Welle von Kündigungen gegeben, besonders beim Zweiten Kanal Rossia. Es gab Situationen, wo Regisseure einfach mitten bei der Arbeit im laufenden Programm aufgestanden und weggegangen sind. Die meisten Kündigungen gab es von Kollegen, die im Ausland gearbeitet haben, zum Beispiel Zhanna Agalakova, Vadim Glusker, Lilia Gildeeva.

Wie reagiert das Staatsfernsehen darauf?

Seit meiner Aktion gibt es im russischen Fernsehen keine echten Livesendungen mehr, alles wird leicht zeitversetzt ausgestrahlt, um weitere „Pannen“ zu verhindern. So eine Situation wie mit mir wird sich nicht wiederholen, dafür haben die Verantwortlichen gesorgt. Damit es nicht zu weiteren Kündigungen kommt, hat man schon vor Kriegsbeginn den Moderatoren das Gehalt um 20 Prozent erhöht, und nach meinem Auftritt hat es nochmals eine Erhöhung um 20 Prozent gegeben. Die Leute, die jetzt noch dort arbeiten, verkaufen ihr Gewissen für sehr großes Geld und lügen weiter.

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„Das Gewissen Michjejews. Wir erinnern uns. Wir trauern.“ Geändertes Wandbild Roman Michjejews am 10. Februar 2023.

Wenn Schmerz zum Verrat wird

Der russische Oblast Samara hat schon beim Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion eine besonders große Kriegslast getragen. Seit einem Jahr befindet sich Russland nun in einem Feldzug gegen die Ukraine – und wieder zahlt Samara einen hohen Blutzoll. Ist es das ebenso wert? Vor Ort darf diese Frage trotz allen Leids nur leise gestellt werden, wie unser Russland-Korrespondent Paul Katzenberger bei einem Besuch der Region zur Kenntnis nehmen musste.

Als Sie nach Deutschland kamen, sind Sie in ukrainischen sozialen Netzwerken als Agentin des russischen Geheimdienstes FSB denunziert worden, und aus Moskau hieß es, Sie seien eine britische Spionin. Wie haben Sie das empfunden?

Es war fürchterlich. Es gab einen richtigen Informationskrieg, und ich stand unter einem hohen psychologischen Druck. Der Kreml hat alles dafür getan, dass niemand mir glaubte, dass mein Protest ernst gemeint war. Es wurde behauptet, dass es zu dem Zeitpunkt gar keine Livesendungen gab, dass das alles ein Fake war und ich eine FSB-Agentin sei. Als ich dann aus Russland geflohen war, wurde behauptet, dass ich eine Spionin im Auftrag Großbritanniens bin.

Nach so vielen Jahren der Desinformation glauben die Leute in Russland natürlich eher an konspirative Theorien als an die Wahrheit. Es war sehr vorteilhaft für den Kreml, dass auch Hassnachrichten von ukrainischer Seite kamen, sodass ich praktisch von zwei Seiten angriffen wurde. Das war auch abschreckend für viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die vielleicht auch mit dem Gedanken gespielt hatten, abzuspringen. Viele haben mir geschrieben, weil sie einfach nicht verstehen konnten, was geschehen war.

Wie schätzen Sie die Rolle der Opposition in Russland ein, gibt es eine reale Gefahr für Putin im eigenen Land?

Derzeit gibt es absolut keine Gefahr für Putin. Man kann das mit der Stalin-Zeit vergleichen. Die wichtigen Köpfe der Opposition sind im Gefängnis, wie Alexej Nawalny oder Ilja Jaschin. Andere sind ins Ausland geflohen und versuchen von dort aus, etwas zu bewegen. Aber die Leute im Land trauen sich nicht mehr, etwas zu sagen, zu protestieren.

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Als ich im Herbst 2022 mit einer elektronischen Fußfessel im Hausarrest saß, kam ein Polizist und forderte mich auf zu unterschreiben, dass ich nicht an einem Protest gegen die Mobilmachung teilnehme, zu dem die Organisation „Wesna“ (Frühling) aufgerufen hatte. Wie soll jemand unter Hausarrest und mit Fußfessel zu einer Demo gehen? Alle Kolleginnen und Kollegen, die sich mit mir solidarisch erklärt und mir mobile Nachrichten geschickt hatten, wurden gekündigt. Der Geheimdienst hatte ein Duplikat meiner SIM-Karte angefertigt und konnte jeden Kontakt nachverfolgen.

Als Sie nach Deutschland kamen, erhielten Sie einen Vertrag von der Zeitung „Die Welt“, der wenig später wieder gekündigt wurde mit der Begründung, man könne nicht für Ihre Sicherheit garantieren. Was sagen Sie dazu?

Ich gebe hier der „Welt“ überhaupt keine Schuld. Es wäre für jedes Medium in dieser Situation sehr schwer gewesen, mit mir zusammenzuarbeiten. Es herrschte ein Informationskrieg gegen mich. Ich bekam sehr viele Drohungen, bis dahin, dass jemand mich oder mein Kind umbringen wird. Und ich kann nur vermuten, dass die „Welt“ ähnliche Drohungen erhalten hat. Ich war sehr dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, für die „Welt“ zu arbeiten, denn es war für mich sehr schwer zu akzeptieren, nicht mehr als Reporterin tätig sein zu können.

Russische TV-Journalistin Owsjannikowa zu weiterer Geldstrafe verurteilt

Nach einer neuen Protestaktion gegen den russischen Angriffskrieg hat ein Gericht die Journalistin Marina Owsjannikowa zu einer weiteren Geldstrafe verurteilt.

In Deutschland sind Waffenlieferungen an die Ukraine ein großes Thema. Welchen Eindruck haben Sie dazu während Ihres Aufenthalts in Berlin im vergangenen Jahr gewonnen?

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Ich hatte sehr viele Kontakte, mit Russen, mit Ukrainern und mit Deutschen. Ich habe mich mit vielen Politologen unterhalten und an Protesten gegen den Krieg teilgenommen. Beim Thema Waffenlieferungen muss man einfach verstehen, dass die Ukrainer etwas brauchen, womit sie sich verteidigen können. Die Ukraine braucht Waffen, um gewinnen zu können, auch wenn es vielleicht sehr traurig ist zu wissen, dass dadurch weitere Menschen sterben werden. Die Zukunft der Ukraine und die Zukunft Russlands ist davon abhängig, wie schnell die Ukraine den Sieg erreichen kann.

Ebenso wichtig ist es, in den Informationskrieg einzugreifen. Der Westen sollte unabhängige Journalisten unterstützen, die über die Wahrheit berichten, wie die Journalisten des russischen TV-Senders Rain, die jetzt vom Ausland aus arbeiten.

Was denken Sie, wie kann der Krieg enden?

Dieser Krieg kann nur enden mit einer Kapitulation des Putin-Regimes. Ich denke, hier ist eine Analogie zu Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus gerechtfertigt. Alle Kriegsverbrecher müssen ins Gefängnis, und die Ukraine muss all ihre Territorien zurückbekommen. Mir ist klar, dass das mit der Krim eine schwierige Frage ist, aber aus völkerrechtlicher Sicht ist die Krim Territorium der Ukraine, das jetzt unter russischer Kontrolle steht.

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Interview: Jan Emendörfer und Steven Geyer, Dolmetscherin: Anna Ipatova

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Buchhinweis: Marina Owsjannikowa „Zwischen Gut und Böse – wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte“ (Langen-Müller-Verlag München)

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