Missbrauchsfälle mitverantwortlich

Zahl der Kirchenaustritte 2022 deutlich gestiegen

In einer Kirche sind die Bänke während der Öffnungszeit unbesetzt.

In einer Kirche sind die Bänke während der Öffnungszeit unbesetzt.

München. Seit Jahresbeginn sind offenbar deutlich mehr Menschen aus der Kirche ausgetreten als in den Jahren zuvor. Das legt eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter größeren Städten in Deutschland nahe. Zehntausende kehrten der Kirche demnach den Rücken. Nicht allen Standesämtern werden Gründe bekannt. Diejenigen, die es wissen, sagen: finanzielle Gründe und sexueller Missbrauch.

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Zahl der Kirchenaustritte

Allein die Stadt München verzeichnete bis zum 15. Dezember 2022 insgesamt 26.008 Kirchenaustritte, wie ein Sprecher des Kreisverwaltungsrates mitteilte. Das sind knapp 4000 mehr als im gesamten Vorjahr. Die jeweilige Konfession wurde dabei nicht erfasst.

In Berlin traten nach Angaben einer Sprecherin der Berliner Zivilgerichte in den ersten drei Quartalen dieses Jahres 18.018 Menschen aus der Kirche aus - ebenfalls rund 4000 mehr als 2021 im gleichen Zeitraum. Davon waren 9466 evangelisch und 8442 römisch-katholisch, die restlichen hatten eine andere Konfession.

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Die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover meldete eine ähnliche Tendenz: Dort traten bis Mitte Dezember 2022 insgesamt mehr als 7000 Menschen aus der Kirche aus, knapp 4700 davon aus der evangelisch-lutherischen Kirche und knapp 2300 aus der katholischen Kirche. Im gesamten Jahr 2021 waren in Hannover rund 6600 Menschen aus der Kirche ausgetreten.

In der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden stieg die Zahl der Kirchenaustritte im Jahr 2022 ebenfalls deutlich. Bis zum Herbst des laufenden Jahres wurden nach Angaben der Stadt bereits deutlich mehr als 3200 Austritte in Wiesbaden und den Vororten registriert. 3095 waren es im gesamten Jahr 2021. Städte in Baden-Württemberg und Sachsen meldeten ganz ähnliche Entwicklungen.

In Mainz stieg die Zahl der Menschen, die in diesem Jahr aus der katholischen oder der evangelischen Kirche ausgetreten sind, ebenfalls deutlich. Bis Ende November kehrten 3495 Mitglieder den beiden großen Kirchen den Rücken, wie die Stadt auf Anfrage mitteilte. Das ist ein Anstieg von 36,7 Prozent im Vergleich zum Gesamtjahr 2021. Besonders stark betroffen von der Ausstiegswelle war die katholische Kirche: Sie verlor 2119 Mitglieder. Das ist ein Anstieg von 44 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 1376 verließen die evangelische Kirche (plus 26,9 Prozent).

Die zweitgrößte bayerische Stadt Nürnberg zählte bis Mitte Dezember 6628 Kirchenaustritte im Vergleich zu 4544 im gleichen Zeitraum 2021. Davon waren 2434 römisch-katholisch und 2057 evangelisch.

Gutachten zu Missbrauchsfällen

Zumindest im Fall der bayerischen Landeshauptstadt dürfte ein Grund für den Anstieg auch das Ende Januar vorgestellte Gutachten zu Missbrauchsfällen in der katholischen Erzdiözese München und Freising sein, das weltweit Schlagzeilen machte. Denn besonders zu Jahresbeginn waren die Zahlen in die Höhe geschnellt.

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In der ersten Januarhälfte, also vor dem Gutachten, waren pro Arbeitstag in München etwa 80 Menschen aus der Kirche ausgetreten; nach dem 20. Januar, dem Tag der Vorstellung des Gutachtens, waren es dann zeitweise bis zu 160 Kirchenaustritte pro Arbeitstag - also etwa doppelt so viele.

Die Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) hatte am 20. Januar ein Gutachten im Auftrag des Erzbistums München und Freising vorgestellt. Die Gutachter gehen von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern, zugleich aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus - und davon, dass Münchner Erzbischöfe - darunter auch Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. - sich im Umgang damit falsch verhalten hätten.

Missbrauchsfälle mitverantwortlich für Kirchenaustritte

Auch nach Worten des Mainzer Bischofs Peter Kohlgraf spielen die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche eine wichtige Rolle bei der Suche nach Erklärungen für die steigende Zahl von Kirchenaustritten. Es gebe sicherlich unterschiedliche Wahrnehmungen, was den Umgang der Kirche mit der Aufarbeitung des Missbrauchs angehe, sagte Kohlgraf der Deutschen Presse-Agentur. „Auch im Bistum Mainz haben wir wie in allen Diözesen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz klare Richtlinien und Verfahrensweisen formuliert.“ Allerdings gelingt es nicht immer, diese Bemühungen in der Öffentlichkeit bemerkbar anzubringen.

Kritiker werfen der katholischen Kirche immer wieder Fehler im Umgang mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und Vertuschungsversuche vor. „Natürlich passieren auch Fehler, und manche Maßnahme ist gerade für die Betroffenen nicht wirklich zufriedenstellend“, räumte der Bischof ein. „Da werden weitere Schritte gegangen werden müssen.“ Darüber hinaus gebe es sehr individuelle Gründe, aus der Kirche auszutreten.

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Ein neuer Negativrekord droht

Damit droht ein neuer Negativrekord. Dabei hatten 2021 schon 359.338 Katholiken ihrer Kirche den Rücken gekehrt - so viele wie noch nie.

„Dieser Trend wird wohl nur schwer zu stoppen oder gar umzukehren sein“, sagte Christian Weisner von der Reformbewegung „Wir sind Kirche“. Er sieht einen direkten Bezug zu der aus seiner Sicht mangelhaften Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der Kirche - „denn es hat viel zu lange gedauert, bis die Bischöfe in Deutschland und die beiden Vorgängerpäpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ihre Verantwortung erkannt haben“.

Der Religionspädagoge Ulrich Riegel, der eine vielbeachtete Studie über Kirchenaustritte im Bistum Essen leitete, rechnete schon Ende Februar mit einem neuen Austritts-Rekord in diesem Jahr.

Als gesellschaftlicher Faktor werde die Kirche „kleiner und demütiger“, sagte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, dem „Focus“ in der vergangenen Woche. Sie stecke in einer „tiefen Glaubwürdigkeitskrise“, was sie zum Großteil selbst verschuldet habe - etwa durch Skandale im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kindern und jungen Menschen.

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Zuvor hatte eine Studie der Bertelsmann Stiftung ergeben, dass laut Umfrage noch viele weitere Menschen mit dem Gedanken spielen, der Institution den Rücken zu kehren.

RND/dpa

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