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Kommentar zur Energiekrise

Pullis ersetzen keine Politik, Herr Schäuble!

CDU-Politiker Wolfgang Schäuble hat mit seinem Tipp zum Energiesparen polarsiert.

CDU-Politiker Wolfgang Schäuble hat mit seinem Tipp zum Energiesparen polarsiert.

Der frühere Bundesfinanzminister und Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (80) hat sich mit einigen Hinweisen in die Debatte über die europäische Energiekrise eingebracht. Im Kern lassen sich seine Einlassungen bei Bild‑TV wie folgt zusammen­fassen: Hört auf zu jammern, wir haben Krieg. Es könnte kalt werden im Winter? „Dann zieht man halt einen Pullover an.“ Im Übrigen gelte: „Die Deutschen werden sich wieder mehr anstrengen müssen.“ Es bereite ihm Sorgen, mahnte Schäuble, dass „so viele gerade lieber weniger arbeiten wollen: zum Beispiel in Teilzeit und nie am Wochenende“. Seine Erfahrung: „Immer nur Spaß haben – das ist keine Lebens­erfüllung.“

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Das alte Narrativ von der arbeitsscheuen Generation

Kein Zweifel: Wolfgang Schäuble, geboren im Kriegsjahr 1942, wird Applaus ernten in seiner Generation, wo das Klagen über die verweichlichten, dauer­jammernden Nachkommen weit verbreitet ist. Gewiss wird die Welt nicht untergehen, wenn die Zimmer­temperatur 19 statt 21 Grad beträgt und der zweite Urlaub mal ein paar Jahre ausfallen muss. Doch der Grundton, der Schäubles Stellungnahme durchzieht, ist zerstörerisch. Denn er füttert vor allem das überkommene Narrativ der arbeitsscheuen jüngeren Generation, die nie richtig gelernt habe, sich durchzubeißen, und stattdessen besessen sei von Selfies und Superfood. Natürlich richtet sich Schäubles Appell nicht nur an Jüngere. Aus seiner Perspektive aber sind so gut wie alle jünger.

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„Immer nur Spaß haben – das ist keine Lebenserfüllung“: Wolfgang Schäuble (CDU), ehemaliger Bundestagspräsident, im September bei einem Festakt anlässlich seines 80. Geburtstags in Offenbach.

„Immer nur Spaß haben – das ist keine Lebenserfüllung“: Wolfgang Schäuble (CDU), ehemaliger Bundestagspräsident, im September bei einem Festakt anlässlich seines 80. Geburtstags in Offenbach.

Schäuble ist 80 Jahre alt. Er sitzt seit 1972 im Deutschen Bundestag. Er ist damit der dienstälteste Abgeordnete in der Geschichte nationaler deutscher Parlamente. Ein Termin für den geplanten Ruhestand ist nicht bekannt. Schäubles Biografie steht symbolisch für einen Lebensweg, auf dem Arbeit Lebenselixier, Sinnstifter und Motor ist. Es überrascht wenig, dass „Teilzeitarbeit“ für diesen Mann Teufelszeug und Spaß „keine Lebenserfüllung“ ist. Als Partytier und Hedonist ist Schäuble in all den Jahrzehnten eher nicht in Erscheinung getreten.

Dagegen ist wenig zu sagen. Jeder ist seines Glückes Schmied. Schäubles Äußerungen aber sind ein fernes Echo jener Klage, die sich Jüngere zu allen Zeiten ständig und von allen Seiten anhören mussten – von Eltern, Chefs, Ausbildern, Politikern. Die Soziologie hat ein Fachwort für den Unmut auf die Jugend ersonnen: Man spricht von Juvenoia – zusammen­gesetzt aus „juvenil“ (jugendlich) und „Paranoia“. Es ist die Angst vor den Veränderungs­absichten der Jugend und gleichzeitig die Sorge um das Wohlergehen der Nachkommen. Man habe Deutschland wieder aufgebaut und erwarte nun Folgsamkeit und Demut, zürnten die Älteren in der Nach­kriegs­zeit mit Blick auf die fröhlich eskalierende Jugend, die statt zu buckeln lieber naiv an neuen Gesellschafts­entwürfen bastelte und das Rezept für die Zukunft nicht in Askese und Entbehrung sah. So schimpften in den Sechzigerjahren Männer mit Hüten in deutschen Fußgänger­zonen in Fernsehkameras. So schimpften schon die alten Griechen (auch wenn Sokrates’ berühmtes Zitat von den schlechten Manieren der „heutigen Jugend“ eine Erfindung ist).

Politisches Versagen in der Vergangenheit

Hier wiederholt sich die Geschichte. In der Generation Schäuble ist Härte und Mäßigung das Werkzeug für eine bessere Welt. Doch Pullis ersetzen keine Politik. Und 24/7‑Schuften allein schafft noch keine Zukunft. So ehrlich muss man sein: Die Generation Schäuble hat der nächsten Generation die Welt in keinem guten Zustand überlassen. Angesichts der politischen Bilanz der Boomergeneration ist es mindestens keck, das eigene Tun als Erfolgsrezept für alle Zeit anzupreisen.

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Geborene Helfer: Der Mensch ist besser, als wir glauben

Gerade jetzt, wenn die Welt einem manchmal besonders schlecht erscheint, kann sich ein intensiver Blick auf unsere Kinder lohnen. Denn Kinder zeigen schon sehr früh und ganz instinktiv, dass der Mensch von Grund auf Gutes in sich trägt. Sie helfen, teilen, trösten. Und Erwachsene können einiges dafür tun, damit das nicht verloren geht.

Für die Energiekrise und Putins Irrsinn kann gewiss niemand etwas. Doch ohne Zweifel liegt ein Teil der Ursache für die multiplen Probleme der Gegenwart auch in politischem Versagen in der Vergangenheit. Sonst hätte die deutsche Winter­behaglichkeit nicht jahrelang von einem russischen Rohr mit 115 Zentimetern Durchmesser abgehangen, das so lang ist wie der Rhein, 250‑mal so schwer wie der Eiffelturm und in Lubmin endet. Auch könnten wir ohne die politische Ignoranz der letzten vier Jahrzehnte schon deutlich weiter sein, was den Kampf gegen den Klimawandel angeht.

Mehr arbeiten und Pulli anziehen? Die jüngere Generation – hier Teilnehmer einer Klimaschutz-Demo in Berlin – wollen kein „Weiter so“, sondern fordern nicht weniger als die Anerkennung der Tatsache, dass die Rezepte und Überzeugungen von gestern nicht mehr taugen.

Mehr arbeiten und Pulli anziehen? Die jüngere Generation – hier Teilnehmer einer Klimaschutz-Demo in Berlin – wollen kein „Weiter so“, sondern fordern nicht weniger als die Anerkennung der Tatsache, dass die Rezepte und Überzeugungen von gestern nicht mehr taugen.

Tüchtig buckeln für den Fortschritt? Das allein wird das feststeckende Land nicht voranbringen. Schaffe, schaffe, Häusle baue – mag der Schwabe Schäuble auch fest an das alte Credo der schwäbischen Recht­schaffenheit glauben. Die Jüngeren haben begründete Zweifel daran, dass das Rezept „Weiter so – nur bitte schön mit doppeltem Einsatz“ unsere kollektiven Probleme löst. Denn: „Die Welt bewegt sich rückwärts.“ So heißt es in einem aktuellen UN‑Bericht. Es geht darin um den Hunger in der Welt. Aber es ist genau dieses Gefühl, das für viele Lebensbereiche gilt und so viele Menschen erschreckt: Ausgerechnet jetzt, in einer Zeit, in der sich Gesellschaften wie die deutsche dringend mit viel Elan digitalisieren, modernisieren, für die Zukunft umrüsten müssten, bewegt sich die Welt rückwärts.

Mehr Arbeiten ist nicht der Ausweg aus der Krise

Wasser. Wärme. Nahrung. Mobilität. Frieden. Worunter von Armut Betroffene schon immer leiden, das wird zum Mehrheits­phänomen auch für Millionen aus der Mittelschicht: Es ist die lähmende, nagende Ungewissheit in allen Fragen der eigenen Existenz. Die Unplanbarkeit des Lebens. Der ständige Kampf: Wie soll es weitergehen? Wer soll das alles bezahlen? Da hilft es wenig, als Ausweg aus der Krise mehr protestantisches Arbeitsethos zu verlangen. Von einer Generation, die andere Ansprüche an eine gesunde Work-Life-Balance hat, als nach Stechuhr zu knüppeln. Auch weil sie ahnt, dass kreative Ideen für die Zukunft nicht von der Dauer, sondern von der Qualität der eigenen Arbeit abhängen.

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Die Antwort der Politik auf all diese Ängste kann nicht sein: Dann zieht halt einen Pulli an und schuftet mehr! Denn der tiefe Wunsch von Schäubles Nachkommen ist eben nicht, weiterleben zu können wie bisher, also arglos Ressourcen zu verpulvern und sich einen lauen Lenz zu machen. Die Gesellschaft ist viel weiter. Die Jüngeren verlangen nicht weniger als die Anerkennung der fundamentalen Tatsache, dass die Rezepte und Überzeugungen von gestern nicht mehr taugen, um die Zukunft zu gestalten. Sie fordern nicht Kontinuität, sondern Gestaltungsraum. Sie wollen keine billigen Pulliappelle, sondern zukunftsgewandte Politik.

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