Von Doggerbank bis zum Fast-Atomkrieg 1983: Welche Zufallsereignisse beinahe zum Krieg führten
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August 2019: Gefährliche Konfrontation – ein russisches Kampfflugzeug vom Typ Su-27 flankierte eine US-Maschine.
© Quelle: Screenshot YouTube
Eine amerikanische Drohne vom Typ MQ‑9 und ein russisches Militärflugzeug vom Typ SU-27 geraten, unter welchen Umständen auch immer, über internationalen Gewässern aneinander – es sind die klassischen Zutaten, aus denen Politikwissenschaftler und Krisenanalytiker einst die Szenarien eines „accidentally war“, eines Krieges aus Zufall, entwarfen.
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Die Theorie des „accidentally war“ spielte während des Kalten Krieges (1947 bis 1991) vor allem in der amerikanischen Krisenforschung eine große Rolle. Und beschäftigte sogar Hollywood: In Stanley Kubricks Spielfilm „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ löst ein geistesgestörter US-General einen Atomkrieg mit der Sowjetunion aus.
„Ein unbeabsichtigter Krieg (oder Krieg aus Zufall) ist ein Krieg, bei dem ein politischer Prozess oder Konflikt, der normalerweise friedlich beigelegt werden könnte, durch Kräfte dominiert wird, die einer kriegerischen Logik folgen – zum Beispiel auch durch einen Unfall“, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler und Historiker Marc Trachtenberg in „The ‚Accidental War‘ Question“ formuliert.
Nach Ballonabschuss: USA werten Trümmerteile aus
Vor der Küste South Carolinas bergen die USA Trümmer eines mutmaßlichen Spionageballons aus China aus dem Wasser.
© Quelle: dpa
Ein chinesischer Ballon und 1000 Fragen
Am 1. Februar 2023 tauchten in den sozialen Medien Bilder und Videos eines großen ballonartigen Objekts auf, das am Himmel über dem Bundesstaat Montana beobachtet worden war. Am Folgetag erklärten US-Behörden, dass das US-Militär schon seit einigen Tagen einen mutmaßlichen Spionageballon chinesischen Ursprungs beobachtet habe, der in großer Höhe den Norden der Vereinigten Staaten überfliege. Erst als der Ballon die Ostküste erreicht hatte, wurde er am 4. Februar 2023 von einer F‑22 abgeschossen. Ähnliche Vorfälle, auch in Lateinamerika, folgten.
China protestierte, hielt die Reaktion der USA für unangemessen – doch zu einer nachhaltige Eskalation im ohnehin angespannten amerikanisch-chinesischen Verhältnisses kam es nicht. Der frühere australische Premier und künftige Botschafter seines Landes in den USA, Kevin Rudd, warnte vor der Gefahr eines „unfallbedingten Krieges“ zwischen den Supermächten: „Der Gesamtzustand der Beziehungen zwischen den USA und China ist in einem schlechten strategischen Zustand.“
Der Unbekannte, der 1983 die Welt rettete
Der bekannteste Fall eines „Beinahekrieges“ durch Zufall, auch in diversen Filmen und Dokumentationen verewigt, ereignete sich am 26. September 1983 am Ende des Kalten Krieges. Ort des Geschehens: Der Serpuchow-15-Bunker ungefähr 50 Kilometer südlich von Moskau.
Stanislaw Petrow, ein Oberstleutnant der sowjetischen Streitkräfte, hatte Nachtdienst. Die Verantwortung für die Überwachung des gegnerischen Luftraums lastete allein auf seinen Schultern – weil er die Schicht für einen verhinderten Kollegen übernommen hatte. Kurz nach Mitternacht, um 0.15 Uhr Moskauer Zeit, wird plötzlich Alarm ausgelöst. Das russische Frühwarnsystem meldet den Start einer US-Atomrakete in den Vereinigten Staaten.
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Das ist der Fall, der tausendmal geübt wurde – und eigentlich nie eintreten sollte. Für die sowjetischen Streitkräfte ist jetzt ein Gegenschlag unvermeidbar – eigentlich. Tatsächlich entscheidet sich Petrow, den Vorfall als Fehlalarm abzutun. Ein enormes Risiko für den 47-Jährigen, denn falls er sich irrt, gefährdet er die Existenz seiner Heimat – und damit zig Millionen Menschenleben.
Später zeigt sich, dass Petrow richtig lag: Das Überwachungssystem hatte Reflexionen des Sonnenlichts an Wolken über einer US-Luftwaffenbasis als Raketenstart fehlinterpretiert.
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Stanislaw Petrow starb 2017 im Alter von 86 Jahren.
© Quelle: dpa
Noch während er mit dem Generalstab telefoniert, zeigt der Computer vier weitere Raketenstarts an. Petrow behält die Nerven, der gesunde Menschenverstand sagt ihm, dass trotz der ost-westlichen Spannungen, dass trotz des grundsätzlich „aggressiven Charakters“ des westlichen Bündnisses, an welches auch Petrow aufgrund seiner dogmatischen Erziehung glaubt, ein Angriff mit Atomwaffen nicht stattfindet, nicht sein kann, nicht sein darf.
Das Schlimmste in dieser Nacht war, dass ich massive Zweifel hatte, ob meine Entscheidung richtig war.
Stanislaw Petrow,
Oberstleutnant der sowjetischen Streitkräfte
Tatsächlich war die internationale politische Situation zu diesem Zeitpunkt extrem angespannt: US-Präsident Ronald Reagan hatte die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ beschimpft. Die Nato hatte einen enormen sowjetischen Vorsprung, was die Zahl an Mittelstreckenraketen betraf, kurz zuvor durch Nachrüstung ausgeglichen. Verschärft wurde die Lage noch durch den Abschuss eines südkoreanischen Passagierflugzeugs durch Russland am 1. September 1983. Eine Eskalation lag also in der Luft.
Petrows beherztes Handeln wurde erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bekannt. „Das Schlimmste in dieser Nacht war, dass ich massive Zweifel hatte, ob meine Entscheidung richtig war“, sagte er 2006 vor den Vereinten Nationen in New York. „Aber zum Glück war sie es.“
Es war aber nicht der einzige Zwischenfall, nach dem es beinahe zum Krieg gekommen wäre.
Russisch-türkische Konfrontation 2015 in Syrien
Am 24. November 2015 drohte die direkte militärische Konfrontation zweier Staaten, die beide nicht nur politisch ähnlich aggressiv agierten, sondern auch von autoritären Hitzköpfen regiert wurden: Im türkisch-syrischen Grenzgebiet über der syrischen Provinz Latakia schossen türkische Streitkräfte mit einer Luft-Luft-Rakete ein russisches Militärflugzeug ab. Die Su-24 mit der taktischen Nummer „weiße 83“ war auf der russischen Basis in Latakia gestartet und stürzte nach dem Abschuss auf syrischem Boden ab.
Beide Besatzungsmitglieder konnten sich mit Schleudersitzen retten, doch der Pilot wurde von protürkischen Milizen getötet.
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Nach dem Vorfall von 2015 begründeten der russische Präsident Wladimir Putin (rechts) und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdogan eine Partnerschaft, um ihre imperialen Ziele besser abzustimmen.
© Quelle: Sergei Savostyanov/Pool Sputnik
Eine direkt nach dem Abschuss gestartete Rettungsaktion mit Mi-8-Hubschraubern wurde ebenfalls beschossen, wobei ein weiterer russischer Soldat starb. Untersuchungen ergaben, dass es wohl zwischen den Piloten und der türkischen Seite keinen Funkkontakt gab – Vorwarnungen konnten von der russischen Besatzung nicht empfangen werden, weil an Bord ein Modul für den Empfang internationaler Frequenzen des Not- und Anrufkanals fehlten.
Kurzzeitig sah es nach einer unvermeidlichen Konfrontation der beiden in Syrien militärisch engagierten Staaten aus – doch am Ende führte der Vorfall sogar zu einer Abstimmung und künftigen Zusammenarbeit Moskaus und Ankaras – nicht aus Gründen der Vernunft, sondern aus kalten strategischen Erwägungen.
Francis Gary Powers: Abschuss über dem Ural 1960
Am 1. Mai 1960 startete Francis Gary Powers in Nordpakistan zu einem Aufklärungsflug über die Sowjetunion. Powers, ein erfahrener Pilot, sollte im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes sowjetrussische Militäranlagen fotografieren. Die U‑2, eine einstrahlige Militärmaschine, konnte eine Höhe von 20.000 Metern erreichen – und war damit für den Feind außer Reichweite.
Während des Fluges traten jedoch Probleme am Triebwerk auf, die Maschine verlor über dem Ural an Höhe und wurde in der Nähe von Swerdlowsk von einer sowjetischen Boden-Luft-Rakete vom Typ S‑75 Dwina getroffen. Powers sprang mit dem Fallschirm ab und wurde festgenommen.
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Wie Putin Revanche für eine empfundene Kränkung nimmt
Schon 2005 bezeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Während viele der ehemals 15 Sowjetrepubliken das Ende auch als Chance begriffen, trauern alte russische Eliten dem kollabierten Gebilde bis heute nach. Für Putin stellt er auch persönlich eine Kränkung dar. Seit Jahren arbeitet der Kremlchef zielstrebig an einem Comeback des untergegangenen Imperiums.
US-Präsident Dwight D. Eisenhower gestand zwar den Spionageflug ein, versuchte aber, vor der internationalen Presse die Aufklärungsmission der Amerikaner zu rechtfertigen. Der Kalte Krieg wurde noch kälter: Der sowjetische Regierungschef Chruschtschow sagte aus Protest seine Teilnahme an einer wichtigen Gipfelkonferenz der alliierten Siegermächte ab. Die US-Regierung musste aufgrund der aggressiven Spionageaktion internationale Kritik einstecken.
Kuba-Krise 1962 – kühle Köpfe in einer hitzigen Phase
Inmitten einer dreizehntägigen Konfrontation zwischen den beiden Atommächten Sowjetunion und USA im Oktober 1962, Auslöser war die Stationierung russischer Mittelstreckenraketen „im Vorgarten“ der USA, führte der Abschuss eines US-Aufklärungsflugzeuges über der Karibikinsel und der Tod des Piloten Rudolf Anderson zu einer gefährlichen Eskalation.
Das Ende ist bekannt: Der noch wenig erfahrene US-Präsident John F. Kennedy und der sowjetische Führer Nikita Chruschtschow ließen sich nicht in einen gefährlich Strudel der Eskalation ziehen, sie bewahrten am Ende einen kühlen Kopf und deeskalierten.
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Ein Flugzeug der US Navy fliegt im November 1962 über den russischen Frachter, um seine Fracht während der Blockade von Kuba zu untersuchen.
© Quelle: imago stock&people
Einrichtung des heißen Drahts
Es waren Beamte der Kennedy-Regierung, die früh vor der Gefahr eines „accidentally war“ gewarnt hatten. Der ehemalige Außenminister Dean Acheson zum Beispiel argumentierte in einem bekannt gewordenen Bericht an den Präsidenten über die Berlin-Krise im Juni 1961, dass „ein Atomkrieg durch Zufall entstehen könnte“, dass insbesondere die reale Gefahr „eines vorzeitigen und unbefugten lokalen Einsatzes von Atomwaffen in Europa“ drohe.
Als Reaktion vereinbarten die Großmächte USA und Sowjetunion am 20. Juni 1963 die Einrichtung einer direkten Nachrichtenverbindung zwischen den Regierungen, den sogenannten heißen Draht oder auch das Rote Telefon.
Schlafwandlerisch in den Ersten Weltkrieg
Der australischen Historiker Christoph Clark prägte in seinem viel beachteten Standardwerk über den Ersten Weltkrieg das Bild der „Schlafwandler“. Denn anders als Historiker vor ihm war er überzeugt, dass es 1914 keine europäische Großmacht gab, die gezielt auf einen Krieg hinsteuerte, vielmehr seien die hochgerüsteten und politisch miteinander verfeindeten Blöcke blind in die militärische Konfrontation getaumelt.
Auslöser für diese „Entladung“ war allerdings ein „accident“, ein Unfall – ebenjenes berühmt gewordene Attentat von Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger. Nach Clarks Lesart wäre der Erste Weltkrieg der Prototyp des „accidentally wars“.
1904: der Doggerbank-Zwischenfall
Dass auch früher solche Vorfälle nicht zwangsläufig in militärischen Abenteuern mündeten, beweist ein Vorfall aus dem Jahr 1904. Inmitten des russisch-japanischen Krieges beschossen Kriegsschiffe der russischen Ostseeflotte nahe der Doggerbank bei Hull in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1904 britische Fischerboote, mehrere Menschen kamen ums Leben.
Irrige Meldungen über die angebliche Anwesenheit japanischer Torpedoboote Tausende Seemeilen von ihren heimischen Gewässern entfernt hatten die russischen Seeleute geradezu panisch gemacht.
Der Zwischenfall weitete sich zu einem Konflikt aus, der Europa für einige Tage an den Rand eines britisch-russischen Krieges brachte, zumal die britische Öffentlichkeit einen unverzüglichen Kriegseintritt aufseiten Japans, mit dem London ohnehin verbündet war, erwartete. Doch die britische Regierung behielt einen kühlen Kopf, der Frieden in Europa blieb vorerst erhalten.