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Proteste gegen Teilmobilmachung in Russland

Osteuropa-Expertin: Der Sturzpunkt des Putin-Regimes ist noch nicht erreicht

Polizisten tragen am Mittwochabend in Moskau einen Demonstranten weg, der gegen die Teilmobilmachung protestiert hatte.

Polizisten tragen am Mittwochabend in Moskau einen Demonstranten weg, der gegen die Teilmobilmachung protestiert hatte.

Berlin. Die Osteuropa-Expertin Katharina Bluhm sieht mit den Protesten gegen die Teilmobilmachung in Russland noch nicht den Punkt erreicht, der zum Sturz des Regimes führen könnte. „Es ist gut möglich, dass sich die Demonstrationen ausweiten“, sagte die Soziologieprofessorin vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Aber die Teilmobilmachung gibt den Machthabern auch die Möglichkeit, den repressiven Druck zu erhöhen.“

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Es sei relativ klar, dass die Unterstützung für die „Spezialoperation“ nicht mit der Bereitschaft zu verwechseln ist, aktiv in einen konventionellen Krieg zu ziehen. Dennoch würden für einen Umsturz Straßenproteste allein nicht reichen, das habe das Beispiel Belarus gezeigt, sagte Bluhm. Die Teilmobilisierung sei ohne Zweifel ein historischer Punkt, aber für einen Regimewechsel brauche es auch eine Elitenrevolte, und die sei bisher noch nicht in Sicht. Außerdem ist völlig offen, wer in den sich verschärfenden Elitekonflikten die Oberhand gewinnen wird.

News Bilder des Tages MOSCOW, RUSSIA - SEPTEMBER 20, 2022: Russia s President Vladimir Putin C arrives for a ceremony to accept credentials from 24 foreign ambassadors at St Alexander s Hall of the Grand Kremlin Palace. Pavel Bednyakov/POOL/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS142F50

Putin zieht seine letzten Register

Mit der Teilmobilmachung will Wladimir Putin 300.000 zusätzliche Soldaten zusammentrommeln. Zugleich droht er mit dem Einsatz von Atomwaffen. Allerdings wächst jetzt auch die Unruhe in Russland – und das politische Risiko für Putin selbst.

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In Belarus war es nach gefälschten Präsidentschaftswahlen im Sommer 2020 zu wochenlangen Massenprotesten gekommen, denen Diktator Alexander Lukaschenko mit massiver Gewalt begegnete. Es gab mindestens acht Tote, Tausende wurde verhaftet, gefoltert und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.

Die Frage lautet: Was erträgt die russische Gesellschaft?

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte am Mittwoch die Teilmobilisierung bekannt gegeben, in deren Folge 300.000 Reservisten zur Armee eingezogen werden sollen. Katharina Bluhm sieht darin die endgültige Aufkündigung dessen, was Soziologen den Gesellschaftsvertrag Putins mit seiner Bevölkerung nennen.

Dahinter steckt das Versprechen einer relativen Stabilität und eines gewissen Lebensstandards durch das Regime, was im Gegenzug von der Bevölkerung mit einem Stillhalten bei politischen Entscheidungen honoriert wird. „Diese Abmachung erodiert schon seit der Besetzung der Krim 2014 insofern, als das die Reallöhne stagnieren oder sogar sinken“, sagte Bluhm.

„Die Teilmobilmachung greift sehr weit in das alltägliche Leben hinein“, erläutert Bluhm. Und das sei für die Menschen mit der Frage verbunden: Lassen wir es zu, dass jetzt wieder eine junge männliche Generation verheizt wird? Wie das die russische Gesellschaft erträgt, auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels zulasten der Jugend, das sei schwer einzuschätzen.

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Die Anordnung einer Teilmobilmachung durch Präsident Wladimir Putin am Mittwoch hat in Russland einen Run auf Flüge ins Ausland ausgelöst.

Expertin: Antiwestliche Stimmung in Russland nicht unterschätzen

Die Teilmobilmachung sei eine Falle, in die sich Russland selbst begeben habe, und auf jeden Fall ein „Wendepunkt, zu etwas anderem hin“ und auch deshalb schon sehr bedeutsam, sagte Bluhm. Die bisherige Strategie, den personellen Nachschub vornehmlich mit Tschetschenen und anderen Angehörigen ethnischer Minderheiten sowie amnestierten Kriminellen zu gewährleisten, sei ein klares Indiz dafür, dass eine breite Mobilisierung unbedingt vermieden werden sollte.

Die russische Jugend habe keine Lust auf diesen Krieg und betrachte ihn bisher auch nicht als patriotischen Krieg, wie das die Kremlführung immer wieder glauben machen will. Schon als es im April in Moskau Gerüchte über eine Mobilmachung gab, seien viele junge Leute in die Flugzeuge gestiegen und hätten das Land verlassen.

Allerdings, so die Osteuropa-Expertin, dürfe man auch nicht unterschätzen, dass es nach wie vor eine weit verbreitete antiamerikanische und antiwestliche Stimmung gibt. In dieser Hinsicht wirke auch die Kremlpropaganda noch mit der Argumentation, dass der Westen die Interessen Russlands immer ignoriert habe. Und natürlich gebe es einen, wenn auch kleinen, harten Kern quer durch alle Alterskohorten und sozialen Schichten, der sich um Putin und das Militär schart.

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