Psychische Versorgung der Ukraine-Geflüchteten: Werden sie mit ihrem Trauma allein gelassen?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/4KGGJM4SEJEVJF7NN6VIJQOTPE.jpeg)
Die Flucht aus der Ukraine kann für die Betroffenen traumatisierend sein. Und auch Monate später erst psychische Folgen haben.
© Quelle: Sergei Grits/AP/dpa
Erfahrungen im Krieg stellen auch nach einer Flucht aus dem Kampfgebiet eine immense seelische Belastung dar. In einem Bericht der Wissenschaftsakademie Leopoldina aus dem Jahr 2018 heißt es, „dass die Hälfte der in den letzten Jahren nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge durch mehrfache und massive traumatische Erfahrungen seelisch belastet ist.“ Viele seien nicht in der Lage, sich ohne fremde Hilfe zu erholen.
Psychische Folgen des Krieges zeigen sich oft erst später
Lukas Welz, Geschäftsleiter der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), geht davon aus, dass etwa ein Drittel der Geflüchteten aus der Ukraine eine psychische Erkrankung wie Depressionen, Angststörungen oder eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. „Werden diese Leiden nicht durch Beratung, Begleitung und Therapie adressiert, können sie sich chronifizieren und zu einer jahrzehntelangen oder auch lebenslangen gesundheitlichen Belastung führen. Auch die Gefahr der Selbsttötung kann eine Konsequenz nicht bearbeiteter schwerer Traumata sein.“
+++ Alle Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine lesen Sie im Liveblog +++
Doch die psychischen Folgen von traumatisierenden Erfahrungen zeigen sich oft erst Monate oder Jahre später, erklärt er. „Das liegt daran, dass Menschen zunächst eine gewisse Sicherheit und Stabilität benötigen, die ihnen dann den Raum gibt, sich mit den belastenden Erfahrungen konfrontieren zu können.“ Welz rechnet fest damit, dass die Nachfrage an psychosozialer Begleitung und Therapie von Geflüchteten aus der Ukraine in den nächsten Wochen und Monaten eklatant ansteigen wird.
Die Angebote in den psychosozialen Zentren werden bereits darauf angepasst. Zum Beispiel mit ukrainisch sprechenden Dolmetscherinnen und Dolmetschern sowie Sprachmittlerinnen und ‑mittlern. Mit dieser „Therapie zu dritt“ können Menschen mit geringen oder ohne Deutschkenntnisse versorgt werden und kulturelle Hintergründe werden berücksichtigt. So zum Beispiel im Zentrum Überleben in Berlin, wo Überlebende von Gewalt und Flucht medizinisch, psychotherapeutisch, sozialarbeiterisch und integrativ unterstützt werden. Die Auswirkungen des Angriffskrieges in der Ukraine seien im Zentrum bislang kaum zu spüren. „Traumareaktive Symptome zeigen sich erst Wochen später“, erklärt auch Pressesprecherin Tinja Kirstein. Für die Geflüchteten aus der Ukraine können Sie aktuell nur eine Telefonsprechstunde anbieten, da alle Therapieplätze voll sind.
Prekäre Lage bereits vor dem Angriffskrieg
„Schon vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine war die Versorgungssituation von Geflüchteten kritisch“, sagt Welz. Es gebe bei Weitem nicht genug Therapieplätze und lange Wartelisten von mehreren Monaten. Und: Oft könne die Therapie von geflüchteten Menschen nicht losgelöst von Fragen des Aufenthaltsstatus und anderen sozialen Themen gemacht werden. „Niedergelassene Therapeutinnen, die Geflüchtete behandeln, kommen häufig in die Situation, sozialarbeiterische Aufgaben übernehmen zu müssen, was nicht dem therapeutischen Selbstverständnis entspricht und auch nicht von den Krankenkassen vergütet wird“, erklärt Welz. In den psychosozialen Zentren werde dies durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Sprach- und Kulturmittlern gelöst. Diese seien aber meist finanziell nur prekär ausgestattet.
Ab Juni sollen Geflüchtete aus der Ukraine mit Leistungen auf Hartz-IV-Niveau versorgt werden und somit auch einen anderen Zugang zur Regelversorgung erhalten. „Die Praxen und Beratungsstellen sind aber weder von den Kapazitäten noch durch die spezifische Expertise im Umgang mit schwersten Traumata nach Folter und Krieg oder im Umgang und der Finanzierung von Übersetzungshilfen vorbereitet“, sagt Welz. Es mangele auch an Sprachmittlung und Kostensicherheit für die Behandelnden.
Ukraine zu Gesprächen bereit: Selenskyj will Menschen aus Mariupol retten
Die Ukraine ist offenbar zu außerordentlichen Gesprächen ohne Vorbedingungen mit Russland bereit.
© Quelle: Reuters
„Gesundheit ist ein Menschenrecht“
Im Jahr 2020 mussten fast 10.000 geflüchtete Menschen aufgrund mangelnder Kapazitäten der psychosozialen Zentren abgelehnt werden, berichtet Welz. Das bedeutet: Die psychosozialen Zentren und ihre Kooperationspartner konnten nur 4,6 Prozent des potenziellen Versorgungsbedarfs abdecken. Entscheidend sei aber auch, wie die Aufnahme der Menschen in Deutschland gestaltet werde. Eine Unterkunft, Nahrung, ein Aufenthaltstitel, Zugang zum Arbeitsmarkt – all dies habe großen Einfluss auf die seelische Gesundheit.
Welz appelliert an Bund und Länder eine schnelle und ausreichende Finanzierung der psychosozialen Versorgung für geflüchtete Menschen mit Folter- und Kriegserfahrungen zu ermöglichen. „Gesundheit ist ein Menschenrecht. Allerdings wird ein Großteil der Menschen, die in Deutschland vor Folter, Krieg und Verfolgung Schutz suchen, mit ihren traumatisierenden Erfahrungen allein gelassen.“ Außerdem fordert er einen gesetzlichen Anspruch der Geflüchteten auf Sprachmittlung, „damit dolmetscher-gestützte Beratung und Therapie gewährleistet werden kann und keine Fehlbehandlungen aufgrund von Sprachbarrieren stattfinden.“
Auch Gebhard Hentschel, der Bundesvorsitzende der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) erklärt, dass die Versorgungssituation in der Psychotherapie wegen der Corona-Pandemie ohnehin schon angespannt sei. Um einen Engpass zu vermeiden, müssten Kassenärztliche Vereinigungen mehr Psychotherapeuten zur vertragsärztlichen Versorgung ermächtigen, fordert er. Denn es gebe zwar genügend Psychotherapeuten – nicht aber Vertragspsychotherapeuten. Außerdem müssten Krankenkassen die Kosten für die Behandlung übernehmen, wenn kein geeigneter Vertragspsychotherapeut oder keine geeignete Psychotherapeutin gefunden wird. Nach einer Umfrage der DPtV wurden bislang 50 Prozent der Anträge auf Kostenerstattung abgelehnt.