Die Frau, die mehr als Königin war, und der Mann, der nicht Zar sein wollte
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Innerhalb weniger Tage im Spätsommer 2022 verstorben: der frühere Staats- und Regierungschef Michail Gorbatschow und die britische Queen Elizabeth II.
© Quelle: imago/PantherMedia/Borisov/dpa/Penny/Photoshot/RND-Montage Behrens
Berlin. Der 8. September 2022 war der Tag, vor dem sich die Britinnen und Briten lange gefürchtet hatten. Als sich an jenem Donnerstag die Nachricht vom Tod der Queen auf Schloss Balmoral in Windeseile verbreitete, wirkte sie wie eine Schockwelle auf der Insel. Viele Landsleute von Elizabeth II., die nie eine andere Königin kennengelernt hatten, fragten sich: Was soll nun werden?
Angesichts der damaligen und heutigen Krisen an der Spitze des politischen Establishments im Vereinten Königreich war es eine allzu berechtigte Frage. Wer, wenn nicht Elizabeth, hält jetzt noch zusammen, was zusammengehört? Wer bringt scheinbar durchdrehende Politiker in der Downing Street zur Räson? Mit wem kann sich die Nation jetzt schmücken?
Die am 21. April 1926 im Haus Windsor als Elizabeth Alexandra Mary in Mayfair, London, geborene Regentin war bislang die Antwort auf viele Fragen ihrer Untertanen im Wandel der Zeiten. Dabei ging es um schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Krisen im Mutterland des Kapitalismus, den Abschied von der Kolonialmacht, den fehlenden Titel als Fußball-Weltmeister, die Stellung in Europa, die Kriege an der Seite der US-Amerikaner – aber auch um das Rollenbild von Frauen und die Schwierigkeiten in einer Familie.
„Unbezahlbare Schuld“
Die britische „Times“ beklagte nach ihrem Tod: „Unsere Schuld ihr gegenüber ist unbezahlbar.“ Die Queen sei Großbritanniens Fels gewesen, in Zeiten von Triumph, Tragödien und Krisen.
Staatsbegräbnis für Elizabeth II.: Die Welt nimmt Abschied von der Queen
Die Queen ist zu Grabe getragen – ein Staatsbegräbnis dieses Ausmaßes haben Großbritannien und die Welt zum letzten Mal vor vielen Jahrzehnten erlebt.
© Quelle: Reuters
Die britische Königin vermochte etwas, was alle anderen Königshäuser weltweit in den Schatten stellte. Sie weckte Interesse über die üblich verbreitete royale Neugier hinaus. Es lag an ihr selbst. Die Queen, kann man wohl behaupten, war und ist die bekannteste Frau der Erde.
Dabei hatte sie von ihrer Thronbesteigung am 6. Februar 1952 an de facto keine Macht – weder auf der britischen Insel noch in den fünfzehn Staaten, deren Souveränin Elizabeth II. war. Doch sie nutzte die Geschichte ihres Wegs aus der zweiten Reihe des Hauses Windsor auf den Thron, ihr anfängliches Unterschätzt-Werden sowie nicht zuletzt ihre farbenfrohen Kostüme und Hüte und die kleine Tasche am Arm als Waffen im alltäglichen Geschäft. Denn so viel war schnell klar: Diese Königin versteht ihren Thron als Job, nicht als Vergnügen.
Queen vereidigte 15 Premiers
Einer davon war: Premierminister vereidigen – bis zu ihrem Tod waren es 15! Doch eine Legende führte die 25-jährige Königin, die inzwischen selbst eine Legende ist, ins Politikgeschäft ein: Sir Winston Churchill. Sie genoss die Lehrstunden mit dem Meister, er war am Ende regelrecht verliebt in die Queen. Sie ebnete später mancher britischen Regierung den Weg zu Vereinbarungen mit skeptischen Staaten, indem sie dort Hände schüttelte und für gemeinsame Fotos zur Verfügung stand.
70 Jahre blieb Elizabeth II. Vorsteherin der britischen Monarchie, was auch den hartgesottensten Antiroyalisten gehörigen Respekt abnötigte – und weiter zu ihrer Faszination beitrug. Sie war länger als 73 Jahre mit Prinz Philip verheiratet und überstand schwierige Familienkrisen wie die Skandale um ihren zweitältesten Sohn Andrew, vor allem aber den Ansehensverlust im Trennungskrieg von Charles – heute ihr Nachfolger – sowie das überlange Schweigen nach dem Unfalltod ihrer Ex-Schwiegertochter Diana im Jahr 1997.
Zur Glasgower Weltklimakonferenz im November 2021 sandte die 95-jährige Königin – von einem Klinikaufenthalt geschwächt – eine für sie ungewöhnlich emotionale Videobotschaft an die teilnehmenden Staats- und Regierungschefinnen und -chefs: Sie hoffe, so die Monarchin, dass diese die Chance ergreifen, „sich über die Politik des Augenblicks zu erheben und wahre Staatskunst zu erlangen“. Und dann am Ende: „Natürlich werden nicht alle hier in den Genuss der Vorteile diesen Handelns kommen: Keiner von uns wird ewig leben.“
Nahbar und faszinierend
Dies alles machte die Queen nahbar und faszinierend für viele Briten, über ihre Nation hinaus aber auch zu einem globalen Vorbild in Sachen Engagement, Würde, Pflicht, Verantwortung und Berufung. „Sie hat – könnte man sagen – gänzlich im öffentlichen Leben auf ein Ich verzichtet“, sagt der Historiker Christopher Clark. Auch wenn der Ruf des Königshauses nicht immer der beste war – die Popularität Elizabeths blieb bis zum Schluss unangefochten.
Davon konnte ihr Generationengenosse Michail Gorbatschow nur träumen.
Er starb am 30. August 2022 im Alter von 91 Jahren nur wenige Tage vor der Queen. Sein Tod war weltweit eine Nachricht unter vielen an jenem hochsommerlichen Dienstag. In seiner russischen Heimat gab es keinen nationalen Trauertrag wie zuletzt 2007 für Boris Jelzin, auch kein Staatsbegräbnis.
Gorbatschow krempelte die Welt um
Dabei hat der einstige Kremlherrscher in seinen sechs Jahren an der Macht die Nachkriegswelt deutlicher und nachhaltiger umgekrempelt als die britische Königin in sieben Jahrzehnten.
Das Wirken Gorbatschows wird aus zwei sehr gegensätzlichen Perspektiven betrachtet. Der Westen und bürgerbewegte Osteuropäerinnen und Osteuropäer sehen in dem Nordkaukasier mit russischem Vater und ukrainischer Mutter denjenigen, der den eisernen Vorhang zerfetzte, der Mauer die wichtigste Stütze entzog und so die deutsche Einheit gewaltlos ermöglichte. In seiner Heimat gilt Gorbatschow dagegen als derjenige, der für den Kollaps des sowjetischen Imperiums, Armut und den Abstieg von der Supermacht zur Regionalmacht sorgte.
Im März 1985 war der Funktionär neuer Parteichef der Kommunisten in der Sowjetunion geworden. „So kann es nicht weitergehen“, hatte er seiner 1999 verstorbenen Frau Raissa kurz zuvor bei einem Spaziergang im Park offenbart. Mit der Doktrin Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) sorgte er für politisches Tauwetter und vorsichtige Wirtschaftsreformen im eigenen Land, die schnell darüber hinaus ausstrahlten.
DDR-Bürger riefen „Gorbi“
Im Ostblock sorgte dies für gewaltige Irritationen bei den Herrschenden und zunehmende Begeisterung bei den Bürgerinnen und Bürgern. „Gorbi“ heißt der Mann mit dem prägnanten Stirnmal im Handumdrehen. Plötzlich konnten sich viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit dem Propagandasatz „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ identifizieren – dafür die Propagandistinnen und Propagandisten nicht mehr.
Die Politologin Lilija Schewzowa schrieb später, dass der Kremlchef den „Sowjetbürger in sich selbst zerstörte“, ein totalitäres System demontierte und gleichzeitig mit dem Aufbau einer Demokratie begann, sei eine unschätzbare historische Leistung gewesen.
Die Tragik des Michail Gorbatschow: Der Mann, dem fälschlicherweise der Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ zugeschrieben wurde, war seiner Zeit zu weit voraus. Er startete in der Sowjetunion Prozesse, die sich zunehmend und rasant seiner Steuerung entzogen.
Moskau veranstaltet Trauerfeier für Michail Gorbatschow
In Moskau findet am Samstag die Trauerfeier für den verstorbenen früheren sowjetischen Staatschef Gorbatschow statt.
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Friedensnobelpreis 1990
Gorbatschow, der 1990 den Friedensnobelpreis erhielt, trat im Dezember 1991 als Präsident einer im atemraubenden Tempo zusammenfallenden UdSSR zurück. Zuvor war sein einstiger Mitstreiter und spätere Gegenspieler Boris Jelzin Präsident des neuen, unabhängigen Russlands geworden. Eine Demütigung.
Gorbatschow, der Mann, der nie Zar sein wollte, konnte in der russischen Politik trotz mehrerer Versuche nie wieder Tritt fassen. 1996 erhielt er bei den russischen Präsidentschaftswahlen 0,51 Prozent der Stimmen – für ihn war es Wahlbetrug.
Am Lebensende schleicht sich Bitternis in Gorbatschows Herz. Russland, erklärt er, wäre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie als echter Partner behandelt worden. Die Osterweiterung der Nato empfand Gorbatschow als Verrat des Westens an seinen Zugeständnissen bei der deutschen Wiedervereinigung.
„Held des Rückzugs“
In seinem 2019 in Deutschland veröffentlichten Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“ beklagt er im sich verschärfenden Konflikt mit dem Russland Wladimir Putins ein „Triumphgehabe“ des Westens und kritisierte die Sanktionen als Antwort auf die russische Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim 2014.
Der Abzug der Sowjetarmee aus Afghanistan, die begonnene Demokratisierung der UdSSR, das Atomabkommen mit US-Präsident Ronald Reagan, die deutsche Wiedervereinigung – all dies macht Gorbatschow, wie der im November verstorbene Hans Magnus Enzensberger ihn bezeichnete, zu einem „Helden des Rückzugs“.
Und in Russland? „Gorbatschow hatte kein Glück mit uns“, analysiert die Politologin Schewzowa. „Aber wir hatten Glück mit ihm. Das ist die Wahrheit, die wir erst noch lernen müssen.“