Amnesty-Expertin ein Jahr vor WM: „Katars Offenheit für Kritik hat sehr klare Grenzen“
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Eine Baustelle vor der Skyline in Doha in Katar im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2022.
© Quelle: imago images/Ulmer
Hannover. In rund einem Jahr startet die Fußballweltmeisterschaft in Katar. Immer wieder gab es im Vorfeld des Turniers Berichte über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Gastgeberland – speziell von Amnesty International. Lisa Salza ist seit 2014 Länderverantwortliche bei Amnesty Schweiz. Seit 2016 arbeitet sie zum Thema Sport und Menschenrechte und hat in diesem Bereich bereits mehrere Kampagnen geleitet, etwa zu den Olympischen Spielen 2016 in Brasilien, der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland – und nun zur WM 2022 in Katar. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) berichtet sie, mit welchen Missständen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Katar noch immer zu kämpfen haben, was Amnesty von der Fifa fordert und wie sich die öffentliche Debatte beim Thema Menschenrechte entwickelt hat.
Frau Salza, seit im Jahr 2010 die Weltmeisterschaft 2022 an Katar vergeben wurde, gibt es Kritik am Gastgeberland, vor allem wegen Menschenrechtsverletzungen. Wie sehen Sie die Lage ein Jahr vor dem Turnierstart?
Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Katar sind noch immer massiv von Diskriminierung und Lohndiebstahl betroffen. Das sind mehrheitlich Menschen, die aus Nepal, Bangladesch und aus anderen ärmeren Ländern in dieser Region stammen. Sie kommen nach Katar, um dort Arbeit zu suchen, um ihre Familien in der Heimat versorgen zu können. Doch obwohl sie 90 Prozent der Arbeitskraft in Katar ausmachen und deshalb enorm wichtig für die dortige Wirtschaft sind, werden sie weiter diskriminiert. Mit dem Kafala-System gibt es in Katar noch immer ein System, das Missbrauch Tür und Tor öffnet. Trotz beschlossener Reformen, die zu einer Besserung der Arbeitsbedingungen für Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten führen sollten, sind die verschiedenen ausbeuterischen Elemente des Systems in der Praxis weiter nicht abgebaut.
Amnesty-Expertin Lisa Salza.
© Quelle: Amnesty International
Erklären Sie bitte, wie das Kafala-System funktioniert.
Es ist in der Golfregion weit verbreitet, Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in einem sogenannten Sponsoring- oder Kafala-System zu beschäftigen. In Katar wurde dieses 2009, also ein Jahr vor der Vergabe der WM, eingeführt. Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen – sie gelten als Sponsoren der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten – dürfen damit den Aufenthaltsstatus der Arbeitskräfte regeln. Dafür ziehen sie die Pässe der Menschen ein. Diese müssten sie ihnen später eigentlich zurückgeben, doch das findet in der Praxis oft nicht statt. Das Problematische an diesem System ist, dass es den Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten ohne die Einwilligung ihres Sponsors nicht möglich ist, die Stelle zu wechseln oder gar das Land zu verlassen. Diesbezüglich wurden tatsächlich schon einige Reformen angestoßen, bei deren Umsetzung es allerdings hapert.
Kann man das Kafala-System also als modernes Sklavensystem beschreiben?
Amnesty formuliert das nicht so. Aber es ist auf jeden Fall ein System, das Missbrauch Tür und Tor öffnet. Wir haben in den ersten Jahren nach der WM-Vergabe festgestellt, dass es weiterhin zu Zwangsarbeit kam – auch im Zusammenhang mit den Vorbereitungsarbeiten für die WM. Und das war letztlich nur möglich aufgrund dieses Kafala-Systems.
Mit welchen Reformen wollte Katar die Arbeitsbedingungen verbessern? Und was läuft bei diesen schief?
Die wohl wichtigste Reform der letzten Jahre war die Abschaffung der Regelung, dass Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten die Einwilligungen ihres Arbeitgebers für einen Stellenwechsel oder zum Verlassen des Landes benötigen. Das Problem ist, dass diese Regel auf dem Papier existiert, in der Praxis aber weiter nicht zum Zuge kommt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden noch immer beim Arbeitsministerium abgewiesen, wenn sie auf ihr Recht pochen. Amnesty International hat mehrere Beweise gesammelt, dass die Regeln wiederholt umgangen werden. Kern der Problematik dabei ist, dass Arbeitgeber nicht sanktioniert werden, wenn sie gegen die Regeln verstoßen. Somit gibt es eine faktische Straflosigkeit.
Eine weitere wichtige Reform war die Schaffung von Schlichtungsgerichten, die sich mit Arbeitskonflikten beschäftigen sollen, etwa mit ausstehenden Lohnzahlungen. Es kommt nach wie vor häufig vor, dass Löhne gar nicht, nur in Teilen oder deutlich verzögert ausgezahlt werden. Die Schlichtungsgerichte, die einen niedrigschwelligen Zugang und schnelle Entscheidungen ermöglichen sollten, sind in der Praxis nicht effektiv. Es dauert häufig Monate, bis eine Entscheidung gefällt wird. Diese Zeit hat der Großteil der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aber nicht, um in einem teuren Land wie Katar leben zu können. Viele reisen deshalb um ihren Lohn betrogen und desillusioniert in ihre Heimatländer zurück. Das zeigt, wie stark es noch bei der Umsetzung der Reformen hapert.
Wie offen zeigt sich Katar gegenüber Kritik?
Zu Beginn zeigte sich Katar nicht sonderlich offen für Kritik von Menschenrechtsorganisationen oder von Gewerkschaften. Es brauchte erste eine Vielzahl von Untersuchungen und Dokumentation der miserablen Arbeitssituation von ausländischen Arbeitskräften. Wir gehen davon aus, dass der Druck von Sponsoren und irgendwann auch der Fifa dazu beigetragen hat, dass Katar 2017 erste Verbesserungen eingeleitet hat. Bei der Frage der Kritikfähigkeit stellt sich jedoch die Frage, woher die Kritik kommt. Es gab etwa einen kenianischen Arbeitsmigranten, der in seinem Blog immer wieder die Missstände angeprangert hatte. Er wurde in diesem Mai zunächst verhaftet und schließlich wegen der Verbreitung von Falschinformationen aus dem Land ausgewiesen. Ein ähnliches Schicksal hat den ehemaligen Kommunikationsverantwortlichen der WM in Katar ereilt. Weil er Arbeitsmissstände angeprangerte, wurde er 2019 ebenfalls verhaftet und in diesem Jahr zu fünf Jahren Haft verurteilt. Hier zeigt sich: Katars Offenheit für Kritik hat sehr klare Grenzen.
Wie kann man sich die Lebensbedingungen der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Katar vorstellen?
In erste Linie ist es wichtig zu unterscheiden, ob jemand auf einer WM-Baustelle arbeitet oder woanders. Wir haben nämlich festgestellt, dass die Reformen viel besser bei Projekten gegriffen haben, wo das Scheinwerferlicht der Fußball-WM hinreicht, zum Beispiel auf den Stadionbaustellen. Dort haben sich die Bedingungen und die Sicherheitsstandards in den vergangenen Jahren tatsächlich verbessert. Das gilt aber nicht für den Rest der um die zwei Millionen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Katar. Diese leben teilweise nach wie vor weit außerhalb von jeglicher Zivilisation zusammengepfercht in Containern in der Wüste. Da herrschen hygienisch desolate Bedingungen, was gerade auch während der Corona-Pandemie sehr problematisch ist.
Und die Arbeitsbedingungen?
Die Arbeitsbedingungen sind sehr hart. Der Hitzestress ist beispielsweise ein großes Problem. Zwar soll es jetzt regelmäßigere und längere Pausen geben, dennoch müssen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in einem sehr guten Gesundheitszustand sein, um in Katar arbeiten zu können. Das müssen sie auch schon vor der Einreise belegen. Wer für einen Job in Katar rekrutiert wird, muss im Heimatland einen sogenannten Gesundheitscheck durchlaufen. Den besteht man in der Regel nur, wenn man jung und bei guter Gesundheit ist.
Amnesty berichtet, dass nach offiziellen Angaben seit der WM-Vergabe 2010 über 15.000 ausländische Arbeitskräfte in Katar gestorben sind: Stehen diese Todesfälle alle in Zusammenhang mit WM-Projekten – und woran liegt es, wenn diese „jung und gesund“ sind?
Wie viele Menschen im direkten Zusammenhang mit den Vorbereitungsarbeiten zur WM 2022 gestorben sind, ist für uns nicht eruierbar. Es gibt keine verlässlichen Statistiken. Wir wissen aber, dass jedes Jahr Hunderte von jungen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Katar sterben, ohne dass die genauen Todesursachen untersucht werden. Bei etwa 70 Prozent dieser Todesfälle geben die Behörden einen Herzstillstand oder andere natürliche Ursachen als Grund an. Weil die Menschen aber meist, wie schon gesagt, jung und gesund ins Land kommen, ist es unwahrscheinlich, dass sie wenige Monate oder Jahre danach an einer natürlichen Todesursache sterben. Experten vermuten, dass der Hitzestress in vielen Fällen zu Herz-Kreislauf-Problemen oder im schlimmsten Fall einem Herz- oder Atemstillstand führt.
Welche Forderungen hat Amnesty in diesem Zusammenhang?
Amnesty sieht großen Handlungsbedarf und fordert, dass alle Todesfälle angemessen untersucht werden und jede Leiche obduziert wird. Damit können Rückschlüsse auf die genaue Todesursache gezogen und damit angemessenere Maßnahmen ergriffen werden, um künftig solche Fälle zu verhindern. Das ist aktuell nicht der Fall. Zum anderen sind die Untersuchungen wichtig, damit die Hinterbliebenen eine Entschädigung erhalten können. Dafür ist in erster Linie ein Staat verantwortlich. Amnesty fordert in diesem Fall aber auch die Fifa auf, alle Todesfälle auf den Baustellen genaustens zu untersuchen. Das hat sie im Großteil der Fälle nicht getan. Dort, wo festgestellt werden kann, dass die Arbeitsbedingungen zum Tod der Person geführt haben, muss die Fifa letztlich eine Entschädigung an die Hinterbliebenen zahlen.
Welche Forderungen haben Sie noch an die Fifa?
Weil die Reformen noch immer nicht umgesetzt sind, sollte sich die Fifa mit all ihren Möglichkeiten dafür einsetzen, dass diese wirklich auch angewendet werden. Dafür muss sie ihren Einfluss auch in voller Stärke walten lassen. In diesem Zusammenhang muss die Fifa sich auch dafür einsetzen, dass die Reformen nachhaltig sind. Die Fifa hat vor ein paar Jahren mal gesagt, dass ihr Vermächtnis in Katar sein soll, dass sie dort einen Weltstandard an Arbeitsrecht hinterlassen hat. Wir stellen uns da bloß die große Frage: Wenn das schon ein Jahr vor der WM nicht der Fall ist, wie nachhaltig sind dann wirklich die Standards, die sie dort hinterlassen wollen? Das ist unsere konkrete Forderung, dass die Reformen jetzt und auch über die WM hinaus umgesetzt werden.
Diese sollten auch nicht nur für die Arbeitnehmenden auf den WM-Baustellen gelten, sondern auch für alle anderen, die im Dienstleistungssektor arbeiten. Auch bei ihnen müssen diese Reformen unbedingt greifen. Weiter muss die Fifa Menschenrechtskriterien für künftige Turniere anwenden. 2010 hätte sie von den Missständen in Katar wissen müssen. Das hat sie dennoch nicht von der Vergabe abgehalten. Deshalb ist die klare Forderung, dass bei den künftigen WM-Vergaben auch Menschenrechtskriterien, die sie 2017 eingeführt haben, konsequent umsetzt und beachtet werden.
Können aus Ihrer Sicht auch die teilnehmenden Fußballverbände etwas unternehmen?
Auch die Fußballverbände tragen eine Verantwortung für die Menschenrechte. Einerseits sind sie Mitglied der Fifa und müssen deshalb auch jeden Einfluss auf die Fifa nutzen bei dem Thema. Die teilnehmenden Teams tragen darüber hinaus eine direkte Verantwortung, einen positiven Fußabdruck in Katar zu hinterlassen. Vom Moment, in dem sie das Flugzeug verlassen, bis zum Betreten des Rasens sind sie von Dienstleistungen abhängig, die ebenfalls fast ausschließlich von ausländischen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten ausgeführt werden. Von der Taxifahrt, der Übernachtung im Hotel bis zum Essen im Restaurant. Da die Reformen in Katar nur schleppend durchgeführt werden, fordern wir von den Verbänden, dass sie die eigenen Dienstleister vor Ort dazu verpflichten, Arbeitsstandards zu respektieren. Dies kann beispielsweise durch verpflichtende Arbeitsklauseln sowie Sanktionen bei Nichteinhaltung geschehen.
Aus der deutschen Nationalmannschaft haben bereits die Spieler Toni Kroos und Leon Goretzka öffentlich Missstände in Katar angeprangert. Was bringt es, wenn Fußballer direkt auf das Thema aufmerksam machen?
Wir begrüßen natürlich jede Äußerung oder Aktion, die das Thema Menschenrechte in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit rückt. Da ist es eigentlich egal, ob das von Spielern, den Fans oder von einem Fußballverband kommt. Jede Stimme ist in diesem Kontext erfreulich. Das trägt natürlich mit dazu bei, dass das Thema in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Verglichen mit anderen Großevents stellen wir auch tatsächlich fest, wie stark zur WM in Katar auch die Menschenrechte in den Fokus der Öffentlichkeit und Medien rücken. Zum Beispiel auch dank des Kapitäns der finnischen Nationalmannschaft, Tim Sparv, der sich für unsere Petition an die Fifa einsetzt. So was ist natürlich erfreulich.
Wie ist Ihr Eindruck: Hat sich die öffentliche Diskussion durch die WM in Katar beim Thema Menschenrechte weiterentwickelt?
Aus meiner persönlichen Sicht auf jeden Fall. Ich kann aus der Erfahrung, die Amnesty gemacht hat, sagen, dass bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking oder eben auch 2010 bei der Vergabe der Fußball-WM an Katar sowohl das organisierende IOC und zum anderen die Fifa keinerlei Verantwortung für die Menschenrechte anerkannten. Man mache Sport und keine Politik, war stets die Aussage. Mit der WM-Vergabe an Katar haben die Medien das Thema immer mehr aufgegriffen, auch dank der Dokumentationen von Amnesty International und Human Rights Watch. Es gab in der Folge generell mehr Berichte, wie Menschenrechte durch Sportgroßereignisse in Mitleidenschaft gezogen werden, etwa auch in Russland. Das hat in der öffentlichen Wahrnehmung effektiv zu einem Umdenken und zu einer größeren Sensibilisierung bei Fans und Sportlern geführt.
Inzwischen erkennen internationale Sportverbände wie die Fifa und das IOC zumindest an, dass sie eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht haben. Beide Verbände haben Personen angestellt, die für die Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht verantwortlich sind, und die Fifa hat sich 2017 eine eigene Menschenrechts-Policy gegeben. Die große Herausforderung bleibt nun, dass sie diese auch umsetzen.