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Blick zurück ohne Zorn - das russische Deutschland-Bild 30 Jahre nach dem Mauerfall

Russische Kinder feiern in Moskau mit ihren Eltern den Nationalfeiertag. (Archivfoto)

Russische Kinder feiern in Moskau mit ihren Eltern den Nationalfeiertag. (Archivfoto)

Moskau. Oleg sagt, er merke sofort, wenn er die längst unsichtbare Linie überquere, auf der die Mauer gestanden hat. Auch wenn der Moskauer Reklamemanager, 42, erst seit drei Jahren nach Berlin fährt. „Wenn du von Ost- nach Westberlin kommst, sind gleich viel mehr Farbige da.“

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Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, ein Jahrhundertereignis, das die Teilung Deutschlands und den Kalten Krieg beendete. Gegen den Willen der Sowjetunion wäre das unmöglich gewesen. Ihre Truppen standen damals in der DDR. Und ihr Führer Michail Gorbatschow hatte das SED-Regime mit seiner Perestroika erst zum Wanken gebracht. Heute blicken die Russen ohne Zorn auf den Mauerfall zurück. Obwohl ihm der Sturz des gesamten Sowjetimperiums folgte. Und obwohl sie die Deutschen in vielem nicht verstehen.

Olegs herzkrankes Töchterchen wird einmal im Jahr in der Charité in Berlin-Mitte behandelt, er mietet dann eine Wohnung im nahen Wedding.

Natürlich sei ihm klar, dass dort besonders viele Migranten leben.

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Aber der Osten sei ruhiger, gepflegter, deutscher.

Mein Großvater überlebte als Kriegsgefangener ein KZ. Er wollte sein Leben lang keine deutsche Musik mehr hören.

Lisa Aleksandrowa-Sorina,

Schriftstellerin

Vor dem Mauerfall galt die DDR als zentraler Frontabschnitt des Warschauer Pakts im Kalten Krieg. In den Achtzigerjahren standen hier an die 500.000 Sowjetsoldaten. Die Russen waren 1945 als Sieger über Nazi-Deutschland eingerückt, das vorher in der UdSSR furchtbar gewütet hatte. 27 Millionen Sowjetbürger, die Mehrzahl Zivilisten, kamen um.

„Mein Großvater überlebte als Kriegsgefangener ein KZ“, sagt die Schriftstellerin Lisa Aleksandrowa-Sorina. „Er wollte sein Leben lang keine deutsche Musik mehr hören.“

Aber die meisten Russen haben Deutschland verziehen. „Das zeigt die große moralische Kraft des russischen Volkes“, sagt Generaloberst Anton Terentjew, Sohn eines gefallenen Rotarmisten, letzter Stabschef der Westgruppe der Sowjetstreitkräfte und Vorsitzender ihres Veteranenverbandes. 8,3 Millionen Sowjetsoldaten hätten in der DDR gedient, sie alle seien jetzt Freunde Deutschlands.

Der Generaloberst, 78, beklagt sich über die Rolle Deutschlands im Ukraine-Konflikt, es hätte die blutige Maidan-Revolution mit angezettelt und sich dann für die Sanktionen gegen Russland starkgemacht. Aber hinter den Protesten der Ostdeutschen 1989 sah er damals keine amerikanischen Machenschaften. „Wir haben das als natürliches Bestreben des deutschen Volkes betrachtet, sich wiederzuvereinigen. Und wir haben diese Vereinigung unterstützt.“

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Deutsche Wertarbeit gilt auch in Russland als sprichwörtlich

Die Mauer ist gefallen, der Kalte Krieg vorbei, zwischenmenschliche Kontakte sind inzwischen Alltag. In Deutschland leben etwa sechs Millionen russischsprachige Menschen. Und 20 Prozent der Russen sagen, sie hätten deutsche Bekannte.

2011 bezeichneten ebenso viele Deutschland als befreundeten Staat, nur Kasachstan und Weißrussland brachte man mehr Vertrauen entgegen. 2015 aber, nach Beginn des Ukraine-Konflikts, stürzte dieser Sympathiewert auf 2 Prozent ab, ist mittlerweile aber wieder auf 14 Prozent gestiegen. Russland ist sich der Freundschaft zu Deutschland als Staat noch keineswegs sicher.

Dabei freut es die meisten Russen sichtlich, wenn sie einem Deutschen begegnen. Es hagelt Komplimente, politisch oft ziemlich unkorrekt. „Auf dich ist Verlass, wie auf einen deutschen Panzer“, kann man auch von einem Putin-Kritiker hören. Viele Russen bewundern noch immer deutsches Kriegshandwerk, deutsche Wertarbeit gilt auch in Russland als sprichwörtlich. Die Russische Föderation importiert deutsche Ventile, Luxuslimousinen oder Profifußballweltmeister, Deutschland ist mit knapp 60 Milliarden Euro Warenaustausch Russlands zweitgrößter Handelspartner nach China.

Niemand in Russland möchte die Mauer wieder aufbauen

Aber die Russen wundern sich über die Deutschen. „Warum habt ihr immer wieder Merkel gewählt?“, wird man in Moskau oft gefragt. Oder auch: „Warum lasst ihr immer mehr Muslime ins Land?“ Politische Korrektheit und Toleranz der neuen Deutschen ist einem Großteil der Russen unverständlich.

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Umso besser verstehen die Russen die Ostdeutschen, ihre Überfremdungsängste und natürlich ihre Nostalgie für sowjetische Zeichentrickfilme oder sozialistische Vollbeschäftigung. „Damals war Geld völlig unwichtig“, sagen Leute über 40 in Tambow mit dem gleichen wehmütigen Lächeln wie in Thüringen.

Niemand in Russland möchte die Mauer wieder aufbauen. Zwar rechnet die Zeitung „Wetschernaja Moskwa“ aus, Gorbatschow hätte Helmut Kohl für die Zustimmung zur Wiedervereinigung statt 15 Milliarden Mark auch 80 Milliarden Dollar in Rechnung stellen können. Und Terentjew sagt, General Klaus Naumann, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, habe ihm einmal persönlich versichert, wenn die Sowjettruppen abzögen, würde die Nato keinen Schritt nachrücken. „Und jetzt stehen Kampffahrzeuge der Nato im Baltikum an der russischen Grenze. Das ist nicht leicht, einfachen Russen zu erklären.“

Oleg sagt, vor 30 Jahren hätten die Russen die Perestroika unterstützt, hätten sich über alle Demokratiebewegungen in Mitteleuropa gefreut. „Ich habe sogar ein Gedicht geschrieben, als in Rumänien Nicolae Ceaușescu gestürzt wurde.“ Damals glaubten die Leute in Moskau noch ebenso wie Bukarest oder Berlin, dass die Freiheit sie glücklich macht.

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