Christoph Heusgen: „Putin hat kein Interesse an einer stabilen Ukraine“
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Der ehemalige UN-Botschafter Christoph Heusgen übernimmt im Februar die Leitung der Münchner Sicherheitskonferenz.
© Quelle: Luiz Rampelotto/ZUMA Wire/dpa
Berlin. Herr Heusgen, Sie übernehmen im Februar von Wolfgang Ischinger die Leitung der Münchner Sicherheitskonferenz. Welche neuen Impulse wollen Sie setzen?
Jeder Leiter hat die Konferenz auf seine Weise geprägt. Wolfgang Ischinger hat sie zu dem gemacht, was sie heute ist: eine globale Hausnummer. Aus allen Weltregionen kommen Entscheider aus Politik und Wirtschaft zusammen. Coronabedingt muss die Anzahl der Teilnehmer diesmal aber stark reduziert werden.
Ist die Konferenz ohnehin nicht zu groß geworden? Russland, China, Israel, Iran – und alles immer im Verhältnis zu den USA – kaum ein Konfliktthema, das nicht aufgerufen wird.
In der Pandemie können wir diesen Jahrmarkt – im Guten und im Schlechten – nicht abbilden. Das gibt der Konferenz eine Chance zu einer gewissen Neuaufstellung und Konzentration. Das werden wir uns genauer anschauen und unsere Schlüsse ziehen für die Veranstaltung 2023, die ich erstmals verantworte.
Kommt US-Präsident Joe Biden nach München?
Das erwarten wir nicht. Er war 2021 virtuell dabei und wird zum G7-Gipfel anreisen, den Deutschland im Juni auf Schloss Elmau ausrichtet. Aber wir setzen natürlich auf eine hochrangige Vertretung der Amerikaner. Die transatlantischen Beziehungen gehören zu den Fundamenten der von dem Widerstandskämpfer gegen Hitler, Ewald von Kleist, 1963 gegründeten sogenannten Wehrkundetagung, aus der sich die Münchner Sicherheitskonferenz entwickelt hat.
Welche Schwerpunkte werden gesetzt?
Zunächst ist es die erste Konferenz mit der neuen Bundesregierung. Das wird für sie eine Gelegenheit sein, ihr außenpolitisches Konzept darzustellen und die internationalen Akteure näher kennenzulernen. Und natürlich zeichnet sich die Konferenz immer durch Tagesaktualität aus. Ich erinnere mich, wie wir 2015 direkt nach der russischen Besetzung eines Teils der Ukraine von den Minsker Friedensverhandlungen nach München geflogen sind, um dort darüber zu berichten. Leider müssen wir davon ausgehen, dass auch in 2022 die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine einen der Schwerpunkte bilden wird.
Heute wäre die belarussische Hauptstadt als Treffpunkt für das Normandie-Format aus Russland, Ukraine, Deutschland und Frankreich undenkbar. Warum konnte der Westen Machthaber Lukaschenko nicht stärker an sich binden?
Es gab eine Chance. Lukaschenko hat sie verpasst. Deutschland und Europa haben alles getan – etwa mit der sogenannten Östlichen Partnerschaft –, um Weißrussland die Möglichkeit zu geben, den Staat zu reformieren, das Land an die Weltwirtschaft heranzuführen und aus der russischen Umklammerung zu befreien. Er hatte aber Angst davor, dass ihm die Liberalisierung und Demokratisierung seines Landes persönlich politisch schaden könnte. Deshalb hat er sich in völlige wirtschaftliche und politische Abhängigkeit zu Russland begeben. Die Ukraine hat den anderen Weg gewählt.
Ist Wladimir Putins Militäroperation an der Grenze zur Ukraine eine pure Machtdemonstration oder die ernsthafte Gefahr, dass der russische Präsident nach der Krim weitere Teile des Landes annektiert?
Die Lage bleibt besorgniserregend. Putin sucht einen Anlass, in die Ukraine einzumarschieren. Er sieht die USA und auch Europa im Übergang von Regierungswechseln und nach dem unrühmlichen Ende des Afghanistan-Einsatzes als geschwächt an. Er ärgert sich auch darüber, dass sich die USA auf China konzentrieren. Das entspricht nicht seinem Bild von Russland als Großmacht. Er will zeigen, dass Russland noch da ist.
Sie glauben, dass er die Ukraine angreift?
Das ist nicht ausgeschlossen – er hat es ja schon mal gemacht. Er behauptet, die Ukraine sei Teil Russlands. Das ist Geschichtsklitterung. Stalin hatte die Ukraine nur ausgebeutet und deren Freiheitswillen in den 1930er-Jahren durch eine bewusst provozierte Hungersnot unterdrückt. Der „Holodomor“ wird als Völkermord charakterisiert mit mehreren Millionen Todesopfern.
1945 war Stalin einverstanden damit, dass die Ukraine Mitglied der Vereinten Nationen wurde. Das ist sie seither. Und 1994 hat Russland im Budapester Memorandum die territoriale Integrität der Ukrainer anerkannt – als Gegenleistung dafür, dass die Ukraine ihre Nuklearwaffen aufgegeben hat. Außenminister Lawrow hat das damals feierlich dem UN-Sicherheitsrat übermittelt. Es ist der gleiche Außenminister, der heute die Souveränität der Ukraine infrage stellt. Lawrow wird nicht gerne daran erinnert.
Die neue Bundesregierung warnt Moskau vor einem Einmarsch. Andernfalls werde es die „ganze Härte“ zu spüren bekommen. Was kann man sich darunter vorstellen?
Deutschland, Europa und die USA müssen gemeinsam eine klare Haltung gegen Russland einnehmen, wie es schon nach der letzten russischen Invasion erfolgt ist. In die Überlegungen zu möglichen Sanktionen sollte auch die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 und der Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift einbezogen werden. Es bedarf einer klaren und harten Antwort.
Eine weiche Reaktion würde Putin als Schwäche interpretieren und seine Expansionsgelüste nur stimulieren. Man muss das klar benennen. Er lebt in seiner eigenen, nostalgischen Welt, in der internationales Recht kein Maßstab ist. Er verklärt die Sowjetunion und sogar das Stalin-Regime. Er strebt eine Wiederherstellung eines russischen Reiches an, das an die Sowjetunion erinnert.
Hat Putin nicht recht, wenn er an das Versprechen der Nato nach dem Zerfall des Warschauer Paktes erinnert, dass sie sich nicht nach Osten ausdehnt – und nun einen schriftlichen Aufnahmeverzicht für die Ukraine in die Nato fordert?
Das ist reine Propaganda. Was Putin jetzt behauptet, entbehrt schlicht jedweder Grundlage. Erstens hat es dieses Versprechen so nicht gegeben. Zweitens ist es das gute Recht der Nato, weitere Mitglieder aufzunehmen, die das wünschen. Russland besitzt hier kein Vetorecht. Und drittens hat die Nato die Ukraine nicht aufgenommen, und eine Aufnahme steht auch nicht in Aussicht.
Beim Nato-Gipfel in Bukarest 2008 wurde die Frage, ob Georgien und die Ukraine einen sogenannten Membership Action Plan, die Vorstufe zu einer Mitgliedschaft, erhalten, abgelehnt, weil beide Staaten die Voraussetzung nicht erfüllten. Im Nato-Vertrag steht: Neue Mitglieder müssen einen Beitrag zur Stabilität des Bündnisses erbringen. Beide Länder konnten das nicht. Im Gegenteil, sie hätten Konflikte in die Nato getragen. Der Sachverhalt hat sich seither nicht geändert. Putin weiß das alles genau. Aber seine Argumentation verfängt offensichtlich immer wieder.
Er destabilisiert die Ukraine, um schon so eine Nato-Mitgliedschaft zu verhindern?
Putin hat kein Interesse an einer stabilen, demokratischen, wirtschaftlich gesunden Ukraine. Denn das wäre ein Signal an die russische Bevölkerung, dass es ihr sehr viel besser gehen könnte. Putin unterdrückt massiv Opposition und Nichtregierungsorganisationen. Er scheut sich auch nicht davor, Gegner am helllichten Tage in Berlin durch den FSB umbringen zu lassen: Staatsterrorismus hat es das Berliner Kammergericht genannt. Ich finde es besonders traurig, dass die Organisation „Memorial“, die an die Gräuel der Stalin-Zeit erinnert, von Putin geschlossen wird, weil er ein anderes Geschichtsbild vermitteln will. Das hat mit dem Russland von Sacharow und Perestroika und Glasnost nichts mehr zu tun.
Wie stark sind die USA derzeit in internationaler Konfliktlösung?
Die USA stehen vor großen innenpolitischen Herausforderungen: Bildungs- und Gesundheitswesen müssen reformiert werden, der Klimawandel stellt das Land vor riesige Probleme, Teile der Infrastruktur sind marode. Präsident Biden will das alles anpacken, sieht sich aber einer tief gespaltenen Gesellschaft gegenüber, wodurch ihm das Leben schwer gemacht wird. Und im Hintergrund lauern die Republikaner Trumps, die an den Grundfesten der amerikanischen Demokratie rütteln.
Vergleichen Sie die vorbildliche Amtsübergabe von Merkel an Scholz mit den USA, wo die Trump-Anhänger den letztlich klaren Sieg Bidens bei den Präsidentschaftswahlen nicht anerkennen. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Biden der Außenpolitik nur sehr begrenzt Aufmerksamkeit schenken kann. Deutschland und die Europäische Union müssen jetzt häufiger in die Bresche springen.
Sie haben sich in Ihrer Zeit als UN-Botschafter mit China angelegt. Die deutsche Wirtschaft ist eng verwoben mit China und Peking kauft auch gern Unternehmensanteile in Deutschland. Ist der Zug einer kraftvoll-kritischen Auseinandersetzung mit China für Deutschland nicht abgefahren?
Die deutsche Wirtschaft hat in den letzten Jahren ganz auf China gesetzt. Es gibt inzwischen aber eine sehr differenzierte Sichtweise. Warnende Hinweise und die Aufforderung zur stärkeren Diversifizierung von Produktionsstandorten und Lieferketten stoßen sehr viel häufiger auf offene Ohren. Es gibt Alternativen etwa im ostasiatischen Raum.
Und China ist auch abhängig von uns. Deutsche Unternehmen beschäftigen Hunderttausende von Arbeitnehmern in China. Deutschland ist das viertreichste Land der Welt und der zweitgrößte Geldgeber des UN-Systems. Wir sind in einer starken Position. Kleinere Länder erwarten von Deutschland, ein Gegengewicht zu China zu bilden. Dann können sie sich anschließen. Wenn wir viele Länder hinter uns versammeln, werden wir China bei der Beachtung von Menschenrechten und internationalem Recht eher zum Einlenken bewegen.
China hat ganze Landstriche in Afrika gekauft. Wie sollen sich diese Länder hinter Deutschland versammeln, das nicht mit Geld kommt?
Viele afrikanische Länder merken inzwischen, dass sie durch die chinesische Unterstützung in eine Schuldenfalle und finanzielle Abhängigkeit geraten sind. Wir sollten uns auf die Länder mit guter Regierungsführung konzentrieren und nicht den Weg Chinas gehen. Afrika ist ein Zukunftskontinent.
Sie waren zwölf Jahre der außenpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie blicken Sie auf die neue Ampelregierung?
Ich sehe zunächst viel Kontinuität. Deutschland wird als verlässlich angesehen. Dafür stehen auch zwei wichtige Personalentscheidungen: Außenministerin Annalena Baerbock hat mit Susanne Baumann als neue Staatssekretärin eine sehr anerkannte Diplomatin ernannt, die sich in den Bereichen Multilateralismus, Sicherheit und Abrüstung bestens auskennt. Das Gleiche gilt für Jens Plötner, den Bundeskanzler Olaf Scholz zu seinem außenpolitischen Berater gemacht hat. Er ist einer der erfahrensten Diplomaten mit einem großen Netzwerk von Europa bis zum Nahen und Mittleren Osten, Nordafrika, Asien und Amerika. Das sind aus meiner Sicht sehr professionelle Entscheidungen.