Das Erbe von Rosa Luxemburg: Was ist heute eigentlich noch links?
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„Die Gegenrevolution entwaffnen, die Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen“: Die „Gegenrevolutionäre“ – das waren für Rosa Luxemburg 1919 ihre einstigen sozialdemokratischen Parteifreunde.
© Quelle: imago images/Christian Spicker/RND Montage Behrens
Berlin. Rosa Luxemburg war es gewohnt, aufzufallen – die Sozialistin war auch auf Parteiversammlungen oft die einzige Frau unter vielen wohlgesetzten Männern. Zugleich musste sie kämpfen, um nicht übersehen zu werden: Mit ihren nur 1,46 Metern Körpergröße, als Akademikerin mit Migrationshintergrund aus Russisch-Polen und jüdischer Familiengeschichte. Ihre Ermordung 1919 durch Freikorps-Soldaten zementierte die Spaltung der Arbeiterbewegung, doch bis heute ist sie Ikone aller Gefühlslinken.
Umstritten bleibt sie, weil sie die Revolution so sehr liebte, dass sie dafür auch Gewalt befürwortete. Am 5. März 1871 wurde Rozalia Luxenburg, wie sie damals noch hieß, im Städtchen Zamosc geboren. In Zürich studierte und promovierte sie, in Deutschland redete, schrieb und organisierte sie – zeitweise auch in der Redaktion der „Leipziger Volkszeitung“.
Zum 150. Geburtstag von Luxemburg ist die Linke mindestens so verunsichert wie im Kaiserreich. Ging es damals um die Frage „Reform oder Revolution“, geht es heute um „Identität oder soziale Frage“. Ist Klimaschutz links? Gibt es noch Klassen? Wie radikal muss, darf eine Linke sein? Und wem gehört Rosa Luxemburg eigentlich heute? „What’s left?“, fragen wir – was bleibt, und was ist heute links? Und gehen auf Tour.
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Zunächst zur SPD-Vorsitzenden Saskia Esken (59). Die SPD will wieder linker daherkommen, den aktiven Staat in den Mittelpunkt stellen. Esken hat den neuen Linkspartei-Chefinnen Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler sehr freundlich gratuliert. Mit einem gemeinsamen Treffen eilt es dennoch nicht, sagt sie. „Die beiden neuen Linken-Parteichefinnen sollen jetzt erst einmal in Ruhe in ihren neuen Positionen ankommen. Dann gehen wir mal zusammen in ein Lokal, wenn das wieder geht. Natürlich sind wir gesprächsbereit, wir sprechen mit allen demokratischen Parteien.“ Die Frage, wem Rosa Luxemburg gehört, sei für sie heute nicht mehr relevant. Ihr Erbe schon.
© Quelle: imago images/photothek
Saskia Esken über Rosa Luxemburg und was links sein heute für sie bedeutet
„Rosa Luxemburg ist eine historische Figur. Sie war eine herausragende Intellektuelle und für viele Menschen ihrer Zeit eine Ikone. Aber natürlich hat sie auch Widerspruch provoziert. Und das zu Recht, weil viele ihrer Ansichten auch aus heutiger linker Sicht ablehnend zu betrachten sind. Dass sie den Parlamentarismus für zu schwach hielt, ist ein Phänomen ihrer Zeit – sie konnte ja nicht erfahren, was parlamentarische Demokratie zu leisten imstande ist. Dass sie die Revolution, auch mit Mitteln der Gewalt, als einzigen Weg sah, die Welt nach vorne zu bringen, ist nichts, womit wir uns heute identifizieren können und sollten.
Anderes aber bleibt: Gerade in Zeiten von Corona müssen wir den Blick auf die ökonomischen Bedingungen der Frauen lenken: Wenn es eng wird und krisenhafte Situationen auftreten, dann treten schnell die traditionellen Rollenmuster wieder hervor. Wenn die Ehemänner das Doppelte verdienen, bleibt zwangsläufig die Frau zu Hause, wenn die Kinderbetreuung fehlt. Da müssen wir Entgeltgleichheit sicherstellen. Und wir sehen auch: Ohne Quote geht es nicht. Das Bewusstsein, dass Arbeitnehmer*innen gemeinsam Interessen durchsetzen können, wenn sie sich organisieren, ist leider ein Stück weit verloren gegangen. Nicht nur in der Plattformökonomie. Das Bewusstsein, gemeinsam etwas erreichen zu können, ist nicht mehr gelernt.“
Daphne Weber (25) wurde auf dem Linken-Parteitag erstmals in den Parteivorstand gewählt. Rosa Luxemburg hat die Studentin und Jungpolitikerin immer im Blick: Ein Porträt steht auf ihrem Schreibtisch. Die Linkspartei nimmt das Erbe der Revolutionärin im Gegensatz zur SPD bis heute gern an: Die Parteistiftung ist nach ihr benannt, zum 150. Geburtstag plant die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein großes Erinnerungsprogramm.
© Quelle: Julien Then
Daphne Weber über Linkssein in der heutigen Zeit und das Erbe von Rosa Luxemburg
„Links zu sein bedeutet, Eigentums- und Demokratiefragen miteinander zu verbinden. In der Corona-Krise sehen wir es deutlich: Niemand sollte zurückgelassen werden, die Reichen sollten für die Krise zahlen. Wir stellen die Eigentumsfrage, wir wollen die Wirtschaft gerecht und ökologisch organisieren. Rosa Luxemburg wollte die Revolution, wollen wir sie auch? Revolution wird als Begriff inflationär benutzt, jedes neue Shampoo wird heute als Revolution beworben.
Was von Rosa Luxemburg bleibt, ist die Forderung nach einer revolutionären Realpolitik. Wir müssen an den konkreten Problemen des Alltags ansetzen, auf eine befreite und gerechte Gesellschaft ohne Ausbeutung, ohne Diskriminierung hinarbeiten. Eine andere Gesellschaft ist möglich, es gibt Alternativen. Von Rosa lernen heißt, die Arbeiterklasse ernst zu nehmen und dass es immer Bewegung von unten braucht.
Der Kampf gegen rechts muss geführt werden. Die AfD inszeniert sich als Opfer, aber wer ihre Politik betreibt, muss mit Widerspruch rechnen. Das machen die Antifas vor Ort, indem sie Wahlkampfstände abschirmen und Gegendemos anmelden.
Streiks und ziviler Ungehorsam sind nach wie vor wichtige Protestmittel. Sie hat von der Spontaneität der Massen geschrieben, das mag heute veraltet klingen, aber es ist aktuell. Bewegungen brauchen keine Herren, die sie anführen. Menschen können sich selbst organisieren.“
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Auch Rasha Nasr (28) steht wie Weber am Beginn ihrer politischen Karriere. Sie stammt aus Dresden, ihre Eltern kamen aus Syrien. Für die sächsische SPD will sie im Herbst in den Bundestag.
© Quelle: Julian Hoffmann
Rasha Nasr über die Rolle von Rosa Luxemburg und ihre Definition vom Linkssein
„Wer wie ich feministisch und links unterwegs ist, stolpert natürlich früher oder später über Rosa Luxemburg. Sie war eine Figur, die bis aufs Äußerste für die Rechte von Arbeitnehmerinnen gekämpft hat, für Gleichberechtigung der Frauen. Diese Themen sind heute noch aktuell, auch wenn wir in einer viel ausdifferenzierteren Gesellschaft leben, als Rosa Luxemburg es damals getan hat. Ihr Erbe ist für mich sehr aktuell, auch wenn sich viele Fragen heute anders stellen und viele Mechanismen anders greifen müssen. Damals war Rosa Luxemburg als Einwanderin die Ausnahme im Deutschen Reich. Heute haben 26 Prozent der Deutschen einen Migrationshintergrund oder eine Migrationsgeschichte.
Durch meine Biografie und auch die Biografie meiner Eltern war ich immer schon ein politischer Mensch. Ich war sechs Jahre alt, als meine Eltern mich auf eine Demo mitgenommen haben, 1998 zum Gedenken an Jorge Gomondai, der 1991 in Dresden von rechten Jugendlichen umgebracht wurde. Damals ist mir bewusst geworden, dass Menschen tatsächlich zu Schaden kommen oder sogar ihr Leben lassen müssen, weil sie anderen nicht ins Weltbild passen. In demselben Jahr bin ich als Prinzessin zum Fasching in der Grundschule gegangen, und ein Klassenkamerad von mir meinte: „Hey, du kannst doch gar keine Prinzessin sein, die sind weiß und blond.“ Da wurde mir bewusst, dass ich anders bin. In der Auseinandersetzung mit Pegida und nach meinen Erfahrungen als Integrationsbeauftragte in Freiberg wollte ich mich parteipolitisch organisieren. 2017 bin ich in die SPD eingetreten.
Ich habe auf einer Kundgebung zum 13. Februar, dem Jahrestag der Bombennacht von Dresden 1945, gesagt, es ist nicht links, sich für eine weltoffene Gesellschaft einzusetzen, und es ist nicht links, sich gegen Nazis starkzumachen. Es ist schlicht demokratisch, und das ist unser Auftrag. Links heißt für mich, für das Wohl der Vielen und nicht für die Interessen Einzelner zu kämpfen. Errungen mit Gewerkschaften, progressiven Bündnissen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Links sein heißt für mich, solidarisch miteinander umzugehen und die Demokratie zu verteidigen.“
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Carola Rackete (28) treffen wir digital in Nordnorwegen. Es regnet in der Arktis, der Klimawandel ist greifbar. Rackete wurde als Seenotretterin und Klimaaktivistin bekannt, dabei sei sie lange gar nicht politisch gewesen, sagt sie – und links schon gar nicht. Das hat sich geändert.
© Quelle: Till M. Egen/Sea-Watch.org/dpa
Carola Rackete darüber, wie sie zu einer linken Position kam
„Das Retten von Menschenleben wird mittlerweile komplett als links angesehen. Da gab es eine Verschiebung in der Gesellschaft. Auch Klimaschutz ist eigentlich kein linkes Thema. Klimagerechtigkeit ist es schon. Wir müssen die Verantwortung für die ökologischen Schulden des globalen Nordens übernehmen. Und da verbinden sich beide Themen: Ich finde auch, dass es mindestens Klimapässe geben muss für Menschen, die fliehen müssen aufgrund der Folgen der ökologischen Zerstörung.
Wir müssen die grüne Festung Europa bekämpfen. In Europa haben wir das Geld, schöne Windparks zu bauen, Elektroauto zu fahren und höhere Dämme gegen den steigenden Meeresspiegel zu bauen. Und höhere Dämme gegen die Migration. Wollen wir eine grüne Festung bauen und dann da drinsitzen? Oder wollen wir ganz fundamental eine Transformation?
In Deutschland ist das Wort Sozialismus ein bisschen verbrannt. In Südamerika ist das ganz anders, da wird die Diskussion um Ökosozialismus breit geführt. Der Ökosozialismus erkennt die ökologischen Grenzen des Planeten an, das hat der marxistische Sozialismus nicht getan. Mit Rosa Luxemburg habe ich mich lange nicht beschäftigt, bevor ich mich politisiert habe. Inzwischen glaube ich, dass es tatsächlich um die Frage geht, die sie gestellt hat: Sozialismus oder Barbarei?“
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In ihrem Heimatland Polen gilt die Erinnerung an Rosa Luxemburg inzwischen als „kommunistische Propaganda“. Mit dieser Begründung wurde eine Gedenktafel in ihrer Heimatstadt entfernt. Und als die linke Sejm-Abgeordnete Katarzyna Kotula (44) mit beantragte, 2021 zum „Rosa-Luxemburg-Jahr“ zu machen, wurde sie von Rechtsradikalen beschimpft. Linke Politik heißt für sie vor allem, für Frauenrechte zu kämpfen.
© Quelle: Adrian Grycuk/Wikimedia Commons
Katarzyna Kotula über die Rolle von Rosa Luxemburg im heutigen Polen
„Nach den Massendemonstrationen gegen das faktische Abtreibungsverbot im Herbst und Winter in ganz Polen stellen wir jetzt unseren Protest um. Wir haben ein Volksbegehren für ein liberales Abtreibungsrecht gestartet. In drei Monaten müssen wir 100.000 Unterschriften sammeln. Es kann sein, dass die Frist wegen der Pandemie verlängert wird. Wir können diese Zeit nutzen, um mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen, nicht nur über das Thema Abtreibung, sondern auch über Frauenrechte im Allgemeinen, über Sozialpolitik, über unsere Themen als Linkskoalition in Polen. Ich finde, dass Rosa Luxemburg eine wichtige historische Persönlichkeit für Polen und die Linke ist. Aber so sind die Zeiten, wenn man hier an sie erinnern will, wird man beschimpft.“
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Christoph Butterwegge (70) sieht sich selbst als den „ideellen Gesamtlinken“. Aus der SPD trat der Politologe und Armutsforscher aus, in die Linke nicht ein. Er findet, dass Linke bei allem Streit untereinander zuerst Luxemburgs bekanntesten Satz „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ beherzigen müssen.
© Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa
Christoph Butterwegge über die Aktualität von Luxemburgs Theorien
„Rosa Luxemburg war eine bedeutende Sozialistin. Ihre politischen Forderungen entsprachen dem Kampf der Arbeiterbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Betriebsbesetzungen, politische Massenstreiks und eine Räterepublik erscheinen heute aus der Zeit gefallen.
Dennoch bleibt vieles aktuell, was Luxemburg als Theoretikerin erkannte. Sie hat sich gegen Dogmatismus, Zentralismus und den Avantgardismus einer Kaderpartei gewehrt, aber auch den Opportunismus und Karrierismus in der Sozialdemokratie scharf kritisiert.
Was sehr modern bei ihr ist: Sie hat die Parteiarbeit nie losgelöst von außerparlamentarischen Bewegungen gedacht. Barrikaden gegen reaktionäre Milizen braucht es heute zum Glück nicht mehr, aber eine soziale Bewegung wie Fridays for Future entzieht sich reiner Parteipolitik und widersetzt sich ihrer Vereinnahmung.
Links sein heißt aber weiterhin, die sozioökonomische Ungleichheit zu bekämpfen und mehr Verteilungsgerechtigkeit anzustreben. Global betrachtet ist die Ausbeutung heute noch krasser als im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, was man in der Bundesrepublik meist ausblendet. Linkes Engagement gegen Rassismus, Nationalismus und Sexismus ist ein Kernbestandteil des Kampfes für soziale Gerechtigkeit. „Identitätspolitik“ und „Klassenpolitik“ sind keine Gegensätze, sondern gehören nach meinem Verständnis als „ideeller Gesamtlinker“ zusammen. Beides gegeneinander auszuspielen wäre grundfalsch und würde Linke schwächen. Dasselbe gilt auch für die soziale und die Klimafrage. Nichts verhindert ökologische Nachhaltigkeit mehr als sozioökonomische Ungleichheit. Rosa Luxemburg hätte das erkannt.”