„Der Krieg hat Druck auf mich gelegt und meine Seele gebrochen“: Ukrainer bleiben trotz russischer Truppen ruhig
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Ein ukrainischer Soldat sichert ein Gebiet in der Region Donezk im Osten der Ukraine (Archivfoto).
© Quelle: Vadim Ghirda/AP/dpa
Awdiwka. An der Frontlinie in der Ostukraine strahlt der Soldat Iwan Skuratowski eine Ruhe aus, die an Betäubung grenzt. Das, obwohl nicht weit entfernt einige der 100.000 Soldaten stehen, die Russland nördlich und östlich seiner Heimat zusammengezogen hat.
Auch dass kürzlich einer der etwa 50 Männer unter seinem Kommando von der Kugel eines Heckenschützen getötet wurde, hat ihn anscheinend nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. So etwas ist in den acht Jahren, seit er an verschiedenen Abschnitten der 250 Kilometer langen Frontlinie stationiert ist, immer wieder mal vorgekommen. Skuratowski trauert, aber Tod und Konflikt sind ein unausweichlicher Teil seines Lebens geworden.
„Der Krieg hat Druck auf mich gelegt und meine Seele gebrochen“, sagt der 30-Jährige. „Ich bin kaltherziger geworden, manche würden herzlos sagen. Ich habe eine raue Art von Humor. Es ist eine Schutzreaktion auf extreme Situationen.“
US-Regierungsvertreter sagen, dass die Gefahr einer russischen Invasion in der Ukraine größer sei als andere Bedrohungen in den nunmehr fast zehn Jahren eines Grabenkrieges. Sie könne jeden Tag beginnen, sagt der Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan, und Präsident Joe Biden hat die Stationierung von 1700 Soldaten im benachbarten Polen angeordnet sowie Amerikanern - mit Ausnahme unbedingt notwendiger Diplomaten - geraten, die Ukraine zu verlassen.
Aber sogar trotz dieser Rhetorik herrscht eine Art Ruhe in dem osteuropäischen Land, unter den Soldaten wie auch in der Zivilbevölkerung, von Angehörigen jener in den Schützengräben bis hin zu Präsident Wolodymyr Selenskyj, der auf eine diplomatische Lösung setzt. „Wir verteidigen unser Land und befinden uns auf unserem eigenen Territorium. Unsere Geduld kann eine Auswirkung auf Provokationen haben, wenn wir nicht auf Provokationen antworten, aber uns mit großer Würde verhalten“, sagte er am Dienstag an der Seite des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Keine Kontrolle über die Lage
Die Ruhe, die Selenskyj und andere vermitteln, hat vielleicht zum Teil damit zu tun, dass sie schlicht keine Kontrolle über die Lage haben. Russland hat sowohl bei der Zahl der Soldaten als auch in Sachen Waffen und Ausrüstung die Übermacht, seien es die in der Nähe bereit stehenden Kampfjets oder die Kriegsschiffe, die vor der Küste manövrieren. Nichts von dem, was Nato-Länder der Ukraine geliefert haben - von den Panzerabwehrwaffen aus Großbritannien bis hin zu den 5000 Helmen aus Deutschland - kann das Ungleichgewicht auch nur annähernd beseitigen. Und die USA haben unmissverständlich klar gemacht, dass keine ihrer Soldaten in der Ukraine kämpfen werden.
Macron seinerseits sprach am Dienstag bei seinem Besuch in Kiew nicht von der Möglichkeit einer Invasion, sondern von der einer länger andauernden angespannten Situation mit erstarrten Fronten, die sich über „Wochen oder Monate“ erstrecken könnte. In Washington sieht man eine viel unmittelbarere Bedrohung - und zögert auch nicht, die Alarmglocken zu läuten. „Unser Bestreben ist sicherzustellen, dass wir die amerikanische Öffentlichkeit und die globale Gemeinschaft über den Ernst der Bedrohung informieren“, antwortete die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, als sie kürzlich auf den Unterschied zwischen Washington und Kiew im Ton angesprochen wurde. Zur Motivation oder Logik der ukrainischen Führung könne sie nichts sagen.
Klar ist, dass beide Regierungen das Ziel haben, eine Invasion zu verhindern, aber sie wenden sich vielleicht an ein unterschiedliches Publikum.
Das Weißen Haus glaube, dass das Betonen der Gefahr einer militärischen Aktion den Kreml davon abhalten könnte, tatsächlich eine zweite Invasion - nach der auf der Krim - durchzuführen, sagte ein hoher US-Regierungsbeamter, der anonym bleiben wollte. Biden und seine Berater kalkulierten, dass sie europäische Verbündete leichter für harte Sanktionen im Fall einer Invasion gewinnen könnten, wenn sie ihre Besorgnisse und geheimdienstliche Erkenntnisse öffentlich machten. Und das könnte den russischen Präsidenten Wladimir Putin abschrecken.
Selenskyj hat derweil bei allen Besorgnissen auch im Blick, dass eine alarmierende Rhetorik der ukrainischen Wirtschaft schwer schaden könnte - wo doch bislang kaum ein Schuss gefallen ist.
„Selenskyj versucht, langfristig zu denken“
Die abweichenden Botschaften aus Kiew und Washington wurzelten in unterschiedlichen Einschätzungen der russischen Absichten, sagt Daniel Fried, der einst die Regierung von US-Präsident George W. Bush in Ostfragen beraten hat. „Selenskyj versucht, langfristig zu denken“, so der Experte. „Er scheint über die Auswirkungen besorgt zu sein, die eine andauernde Krise auf die ukrainische Wirtschaft hätte. Und er hat vielleicht das Gefühl, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Putin eine Invasion durchführt, geringer ist als die, dass Putin darauf abzielt, die Bedrohung einer Invasion zu nutzen, die ukrainische Wirtschaft zu zermalmen“ - und ausländische Investoren abzuschrecken.
Skuratowski an der Frontlinie in Awdiwka in der Region Donbass unterstützt einen Lösungsansatz, der sich auf Diplomatie konzentriert. „Waffen würden hier kein Problem lösen“, sagt der Soldat, der sich kürzlich für zwei weitere Jahre beim Militär verpflichtet hat.
Er spricht jeden Tag per Video mit seiner Frau Myrna auf der anderen Seite des Landes in der Küstenstadt Mykolaiw nahe Moldau. Sie erzählt, dass sie und ihre Freunde über die Möglichkeit eines Krieges sprächen, aber niemand in Panik sei. Ihr Mann würde es ihr sagen, wenn etwas geschehe, „und da er es nicht tut, bin ich ruhig, was die Lage betrifft“.
RND/AP