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Der Mörder war wieder der Incel

Gedenken an die Opfer des Messerattentats von Würzburg

Gedenken an die Opfer des Messerattentats von Würzburg

Jetzt ist das Maß voll. „Merkels Gäste haben wieder zugeschlagen“, schrieb ein Rechtspopulist auf Twitter. „Ich wähle nur noch AfD“, schallte es zurück. Und viele sind sich einig: Die Messerattacken von Würzburg sind ein Fall von islamistischem Terror, den man bitte auch offiziell als solchen bezeichnen sollte.

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„Bei der Ermordung von Frauen ‚Allahu Akbar‘ rufen, bei der Polizei von ‚Dschihad‘ sprechen, Hassbotschaften in der Unterkunft: Was muss man als Islamist eigentlich noch alles machen, damit eine Tat als islamistisch eingestuft wird?“, fragt ein „Bild“-Kommentator.

Land und Leute wollen schnell ein Label

„Da rast der See und will sein Opfer haben“, heißt es bei Friedrich Schiller. Im Fall Würzburg gilt, wie schon so oft im Fall verstörender Gewalttaten: Land und Leute wollen ein Label, und zwar schnell.

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Natürlich spricht in Würzburg alles für die Gewalttat eines Islamisten. Dennoch ist es ein großer Unterschied, ob der 24 Jahre alte Abdirahman J. Teil einer Terrorgruppe war, die ihm Befehle geben konnte – oder ob er einfach nur die bekannten Wimpel religiöser Radikalität hisste während eines Amoklaufs, den er ganz ohne Anstoß von außen unternahm. Bislang deutet alles auf Letzteres.

Hanau, 19. Februar 2021: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält Gedenkrede für die neun Opfer der Morde vom 19. Februar 2020.

Hanau, 19. Februar 2021: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält Gedenkrede für die neun Opfer der Morde vom 19. Februar 2020.

Ähnlich war es in Hanau. Dort fand der Amoklauf des 43-jährigen Tobias R. unter den Zeichen des Rechtsradikalismus statt. Fast alle Opfer waren Zugewanderte. Der Täter war aber nicht etwa Teil einer verdeckt agierenden Braunen-Armee-Fraktion, sondern ganz allein unterwegs.

Würzburg, Hanau und drei Parallelen

  1. Mit der kompletten sozialen Abkapselung schon lange vor der Tat beginnt die frappierende Liste von Gemeinsamkeiten zwischen Tobias und Abdirahman: Beide waren nicht nur arbeitslos, sie waren vor allem ohne Lebenspartnerin oder Lebenspartner. Damit gehören sie zur Gruppe der Incels, der „unfreiwillig Zölibatären“ (involuntary celibates), wie sie in den USA heißen. Keine andere Gruppe driftet weltweit so oft ab in Radikalismus und Wahn, egal in welcher Umgebung.
  2. Beide waren offensichtlich psychisch krank: Die Symptome deuten auf eine Psychose, einen behandlungsbedürftigen Verfolgungswahn (paranoide Schizophrenie). Tobias berichtete von Menschen, die er nicht sehen, mit denen er aber sprechen konnte. Abdirahman fühlte sich nach Angaben eines Bekannten zuweilen „von fünf Russen verfolgt“, einmal sei er deshalb von Würzburg nach Berlin geflüchtet.
  3. Nichts geschah aus heiterem Himmel. Beide hatten lange vor der Tat immer wieder Kontakt mit den Behörden. Tobias meldete sich mehrfach bei der Hanauer Polizei, zuletzt sogar beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe, um Strafanzeige zu erstatten gegen eine angebliche Geheimorganisation, „die sich in die Gehirne der Menschen einklinkt“. Abdirahman zückte im Januar dieses Jahres sogar erstmals schon ein Messer. Die Staatsanwaltschaft forderte daraufhin ein psychiatrisches Gutachten an − das aber bis heute nicht erstellt ist.

Hass auf Frauen plus Hass auf sich selbst

Bei den Incels ist der Hass auf Frauen eine der Haupttriebfedern. Dahinter stecken nach Ansicht von Psychologen Hass auf sich selbst und Versagensängste. Auch empfänden sich viele Incels als unattraktiv.

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Zu einer „Rebellion der Incels“ rief ein Kanadier im Jahr 2018 auf – und fuhr mit einem Transporter immer wieder in Passanten auf einer Straße in Toronto. Zehn Menschen starben, darunter acht Frauen.

Dieses Lieferwagen nutzte ein Incel-Attentäter in Toronto, um acht Menschen zu töten.

Dieses Lieferwagen nutzte ein Incel-Attentäter in Toronto, um acht Menschen zu töten.

Auch der Attentäter von Hanau hinterließ den Ermittlern viele Hinweise, die sich um Frauen drehen. Nie habe er eine feste Freundin gehabt. Weniger gut aussehende Frauen habe er „nicht nehmen“ wollen. Beziehungen zu Frauen jedoch, die seine „hohen Ansprüche“ erfüllten, seien „von einer Geheimorganisation“ verhindert worden.

Welche Rolle spielte in Hanau am Ende eigentlich noch die rechtsextremistische Gesinnung des Täters?

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BKA-Präsident Holger Münch persönlich sah sich im März dieses Jahres zu einer Klarstellung veranlasst: Das BKA bewerte die Tat nach wie vor als eindeutig rechtsextremistisch.

Abläufe, die in kein Raster passen

Zuvor gab es Berichte, wonach BKA-Auswerter die Akzente in ihrem Abschlussbericht möglicherweise verschieben: Tobias habe keine typisch rechtsextreme Radikalisierung durchlaufen, Rassismus sei nicht der dominierende Aspekt seiner Weltanschauung gewesen, zuletzt habe er vor allem Aufmerksamkeit erlangen wollen. Das übrigens wollte auch Andreas Lubitz, der als Germanwings-Pilot im Jahr 2015 auf einen Schlag 149 Menschen umbrachte, ganz ohne politische Parole.

In Wirklichkeit blicken wir auch jetzt auf Abläufe, die in kein Raster passen, nicht mal in das irgendwelcher Radikaler.

Wie beispielsweise soll im Fall des Täters von Hanau die Tötung der eigenen Mutter durch eine rechtsradikale Theorie erklärt werden? Auch für die Ermordung wehrloser Frauen bei Woolworth in Würzburg wird man, anders als Islamhasser glauben, keine irgendwie geartete theoretische Stütze finden in muslimischen Theorien oder Zirkeln, und seien sie noch so radikal.

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Nach der Tat von Hanau hieß es prompt aus der AfD, der Täter sei „ein Irrer“ gewesen, politisch gesehen habe dessen Tat deshalb gar keine Bedeutung. Soll das jetzt auch in Würzburg gelten, sobald eine entsprechende Diagnose vorliegt?

Die Täter haben um Hilfe gerufen

Der Sozialdemokrat Ralf Stegner dagegen forderte im Februar vorigen Jahres in einem ebenfalls etwas überdrehten Tweet: „Schluss mit dem Lügenmärchen von psychisch gestörten Einzeltätern!“

Lassen wir doch etwas mehr Uneindeutigkeit zu. Freunden wir uns an mit dem Gedanken, dass mitunter mehrere Faktoren gleichzeitig wirksam sind: radikale Netzwerke plus Verschwörungstheorien plus gesellschaftliche Isolation plus Wahnvorstellungen.

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Ambiguitätstoleranz mag den politischen Akteuren unvorteilhaft erscheinen in Zeiten wie diesen, in denen sie mit Blick auf die nächste Wahl am liebsten von morgens bis abends „klare Kante“ zeigen, egal bei welchen Thema. Gesamtgesellschaftlich aber hat Ambiguitätstoleranz den Vorteil, dass sie eher in Richtung der Wahrheit führt.

Der Befund könnte sich am Ende nicht nur als komplex erweisen, sondern auch als unbequem. In Hanau wie in Würzburg haben die Täter selbst vor ihrer Tat wochenlang um Hilfe gerufen. Doch eine Gesellschaft, der es nur auf die selbstgerechte Etikettierung von allem und jedem ankommt, hat sie nicht gehört.

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