Die Angst vor dem großen Beben

Sollte ein Erdbeben Istanbul treffen, könnte es mehrere tausend Todesopfer geben.

Sollte ein Erdbeben Istanbul treffen, könnte es mehrere tausend Todesopfer geben.

Istanbul. Wann es kommt, weiß keiner. Aber dass es kommt, ist unter den Fachleuten unstrittig. Der türkischen Wirtschafts- und Finanzmetropole Istanbul steht ein schweres Erdbeben bevor – vielleicht schon Morgen, vielleicht auch erst in zwei oder drei Jahrzehnten. Die Katastrophe könnte in der 18-Millionen-Einwohnerstadt schwere Verwüstungen anrichten und Zehntausende Todesopfer fordern. Gefährdete Gebäude sollen jetzt erdbebenresistent gemacht werde. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

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600 000 Gebäude könnten einstürzen

Mehmet Özhaseki, der türkische Minister für Umwelt und Städtebau, beschönigt nichts: „Die Fachleute sagen, dass Istanbul in den nächsten Jahren von einem massiven Erdbeben getroffen wird – und die Prognosen der Experten machen uns Angst“, sagte der Minister kürzlich in Istanbul anlässlich einer Veranstaltung, bei der Preise für besondere städtebauliche Leistungen vergeben wurden. Dass er mit solchen Mahnungen die festliche Stimmung der Zuhörer trübt, nimmt Özhaseki in Kauf. Erst im September hatte der Minister bei einem ähnlichen Auftritt im zentralanatolischen Konya vor dem drohenden Desaster gewarnt. Die düstere Prognose lautet: Bei einem schweren Erdbeben könnten in Istanbul rund 600 000 Gebäude einstürzen. „Ich will nicht über die Zahl der möglichen Todesopfer sprechen, aber die Verluste werden massiv sein“, warnt der Minister.

Ältere Istanbuler hatten bereits einen Vorgeschmack bekommen. Am 17. August 1999 erschütterte ein schweres Beben den Nordwesten der Türkei. Das Epizentrum lag bei Gölcük, nahe der Industriestadt Izmit. Das Beben, das eine Stärke von 7,6 auf der Richterskala erreichte, brachte über 20 000 Gebäude zum Einsturz. 17 840 Menschen kamen ums Leben, fast 44 000 wurden verletzt. Auch im 100 Kilometer westlich gelegenen Istanbul stürzten einige Bauten in sich zusammen. Es gab 200 Tote.

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Die Stadtverwaltung testet mit Notfallübungen den Ernstfall

Beim nächsten Mal könnte es die Bosporusmetropole sehr viel verheerender treffen. Unter dem Boden des Marmarameeres schrammen die Kontinentalplatten Afrikas, Europas und Asiens aneinander vorbei. Die Platten driften um zwei bis drei Zentimeter pro Jahr, verhaken sich aber immer wieder. Dadurch bauen sich gewaltige Spannungen im Gestein auf. Wenn sie sich ruckartig lösen, entlädt sich die aufgestaute Energie in einem Erdbeben. Vor 18 Jahren traf es Gölcük. Die Seismologen haben Anhaltspunkte dafür, dass sich das nächste große Beben näher an Istanbul ereignen wird.

„In dieser Region haben sich bereits viele Beben ereignet, und es wird weitere geben“, warnte Haluk Özener, der Chef der Istanbuler Kandilli-Erdbebenwarte im August anlässlich des Jahrestags des Gölcük-Bebens. „Alle Fachleute sind sich einig, dass in der Marmara-Region ein Erdbeben mit einer Stärke von mehr als 7 auf der Richterskala bevorsteht, aber wir kennen den Zeitpunkt nicht“, sagte der Seismologe.

Bei dem Beben von 1999 brach in Istanbul eine Panik aus. Inzwischen sind die Behörden besser vorbereitet. Es gibt regelmäßige Notfall-Übungen in den Schulen. Die Stadtverwaltung hat Katastrophenpläne ausgearbeitet und die Hilfsorganisation Roter Halbmond ein Logistikzentrum gebaut, in dem Hilfsgüter gelagert werden.

Viele Areale in der Stadt sind mittlerweile zugebaut

Aber das größte Problem Istanbuls bleibt die marode Bausubstanz. Während Städtebauminister Özhaseki von 600 000 gefährdeten Bauten ausgeht, nannte die türkische Architekten- und Ingenieurskammer kürzlich sogar eine Zahl von zwei Millionen Gebäuden, die einem schweren Beben womöglich nicht standhalten können. Die Kammer kritisiert auch, dass viele Areale, die in den Katastrophenplänen als Sammelplätze für Obdachlose ausgewiesen sind, inzwischen bebaut wurden.

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Die Planungen der Stadtverwaltung gehen von rund 350 000 Obdachlosen aus. Aber welche Folgen das kommende Beben wirklich haben wird, weiß niemand genau. Das gilt auch für die Zahl der Opfer. Sie hängt stark von der Tageszeit des Bebens ab. Die Schätzungen der Experten bewegen sich in einer Spanne von 20 000 bis 100 000 Todesopfern.

Das Bauministerium plant, in den nächsten 15 Jahren 7,5 Millionen Gebäude in der ganzen Türkei erdbebenresistent zu machen, davon 150 000 in Istanbul. Das kann die Verstärkung bestehender Bauten, aber auch den Abriss bedeuten. Die Pläne sind umstritten. Viele Hausbesitzer haben kein Geld für Neubauten, auch wenn die Regierung zinslose Kredite verspricht. Minister Özhaseki weiß, dass seine ständigen Warnungen vor der drohenden Katastrophe unpopulär sind: „Manche fragen mich: Bist Du Minister geworden, um schlechte Nachrichten zu verbreiten? Nein. Aber die Gefahr ist real – ob wir darüber reden oder nicht.“

Von Gerd Höhler/RND

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