Fünf Warnhinweise für die Grünen
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Auf dem Weg ins Kanzleramt? Das Kleingedruckte der jüngsten Umfragen muss den Grünen zu denken geben, analysiert Matthias Koch.
© Quelle: imago images/teamwork
Um 6.21 Uhr am Freitagmorgen verkündete ARD-Moderator Sven Lorig im „Morgenmagazin“ ein kurioses Umfrageergebnis.
- Bei der Sonntagsfrage von Infratest dimap liegen die Grünen weiterhin knapp vor der Union, mit 25 zu 24 Prozent.
- Bei der Frage desselben Instituts, welche Partei die künftige Regierung führen solle, ergibt sich jedoch ein anderes Bild: 31 Prozent wünschen sich eine unionsgeführte Koalition, nur 21 Prozent eine von den Grünen geführte.
Es ist ein Warnhinweis für eine Partei, die schon glauben konnte, eine seit Wochen anschwellende grüne Welle werde ihre Kandidatin geradewegs ins Kanzleramt befördern.
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Auf dem Weg ins Kanzleramt? Annalena Baerbock auf dem Cover deutscher Magazine.
© Quelle: RND
Die Welle zog durchs In- und Ausland, mit Macht. Schon Mitte April wurden Annalena Baerbock und ihre Partei von der „New York Times“ geadelt. Man müsse sich darauf einstellen, schrieb die noch immer wichtigste Zeitung der USA, „dass das Nach-Merkel-Deutschland grün gefärbt sein wird“.
Diese Woche folgte eine Umarmung durch den US-Sender CNN: „Eine Trampolinistin“, die Deutschland in internationalen Wettbewerben vertreten habe, sei auf dem besten Weg, die Nachfolge von Angela Merkel anzutreten.
Die Berichte stützten sich auf seriöse Umfragen. Die Forschungsgruppe Wahlen (Auftraggeber: ZDF) und Infratest dimap (Auftraggeber: ARD) hatten teilweise sogar einen deutlichen Vorsprung der Grünen vor der CDU/CSU gemeldet – so etwas hatte es vier Monate vor einer Bundestagswahl in Deutschland noch nie gegeben. Es gab auch noch nie eine grüne Kanzlerkandidatin.
Grüner wird’s nicht
Im Newsbusiness triumphiert immer das Neue über das Alte, schon aus ökonomischen Gründen. Hinweise auf mögliche Veränderungen verkaufen sich besser als Beschreibungen des immer Gleichen, in den USA wie in Deutschland.
„Endlich anders“, hauchte das Magazin „Stern“ in seiner Coverzeile über Baerbock. „Erfrischend anders“ nannte das Magazin „View“ die Kandidatin. Der „Spiegel“ erklärte, „warum keiner mehr an ihr vorbeikommt“.
Als Baerbock dem Sender Pro Sieben ihren ersten Auftritt als Kanzlerkandidatin gab, bedankten sich die Interviewer Katrin Bauerfeind und Thilo Mischke nicht nur mit braven Fragen, sondern am Ende sogar mit Applaus – das ging dann sogar vielen Anhängern der Grünen einen Schritt zu weit.
Inzwischen aber ahnen viele: Grüner wird’s nicht.
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Sie äußert sich, umsichtiger und aufgeräumter als viele vor ihr, schon als Staatsfrau: Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, in der ZDF-Sendung „Was nun, ...?“.
© Quelle: Thomas Kierok/ZDF/dpa
Immerhin hat Baerbock in den Wochen seit der Bekanntgabe ihrer Kanzlerkandidatur viel erreicht. Sie äußert sich, umsichtiger und aufgeräumter als viele vor ihr, schon als Staatsfrau: zur Nato, zu Russland, zur Lage in Gaza. Sie wurde ganz nach oben getragen, auf eine Ebene, auf der die Grünen zuletzt unter Joschka Fischer unterwegs gewesen waren. Nie war die Chance, dass dem ersten grünen Außenminister bald eine erste grüne Kanzlerin folgen könnte, tatsächlich so nahe wie jetzt.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass erst am 26. September gewählt wird – und die Grünen gut beraten sind, sich auf der noch vor ihnen liegenden Strecke auf unangenehme Überraschungen einzustellen. Man muss gar nicht über einen möglichen Themenwechsel in Deutschland spekulieren, der irgendwann wegführen könnte aus dem ewigen Kreisel aus Corona- und Klimaschutz.
Schon aus dem jetzt vorliegenden, oft wenig beachteten Kleingedruckten der jüngsten Umfragen ergeben sich fünf wichtige Warnhinweise für die Grünen.
<b>1. Die Wähler haben versteckte Vorbehalte</b>
Offenbar gibt es in Deutschland ein tief liegendes Beharren auf einer Linie, die etwas konservativer ist, als es die aktuellen Debatten des Tages und auch die schwankenden Umfragen für die Parteien nahelegen.
Nicht nur der ARD-Deutschlandtrend, auch das ZDF-Politbarometer ermittelte eine auffallend große Gruppe von Wählern, die, trotz sehr günstiger Umfragen für die Grünen, nach wie vor eine unionsgeführte Regierung sehen wollen.
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Trotz Baerbock-Welle: Die Forschungsgruppe Wahlen ermittelte im jüngsten Politbarometer einen auffallend großen Block, der sich nach wie vor eine unionsgeführte Bundesregierung wünscht.
© Quelle: Politbarometer I / Mai 2021
Das Phänomen ist nicht neu, es erklärt auch den spektakulären Aufstieg und Fall von Martin Schulz im vergangenen Bundestagswahlkampf. Der SPD-Kanzlerkandidat war durchs Frühjahr 2017 mit Werten um 30 Prozent gesegelt – und landete am Wahltag im September bei 20,5 Prozent. Dies alles geschah, ohne dass Schulz irgendetwas an seiner Linie geändert hatte. Ein Drittel seiner Gefolgschaft entpuppte sich schlicht als unecht.
<b>2. Die Grünen haben ein Problem mit den Älteren</b>
Innerhalb der Generation 65 plus wünschen sich nach der jüngsten Infratest-Umfrage nur 16 Prozent eine von den Grünen geführte neue Bundesregierung.
Ältere Leute? Teenager aus der Fridays-for-Future-Szene mögen über diesen Befund die Nase rümpfen. Doch hier gerät ein – möglicherweise schon aus mathematischen Gründen unüberwindliches – Hindernis auf dem Weg Annalena Baerbocks ins Kanzleramt in den Blick.
Als Armin Laschet 2017 das zuvor SPD-regierte Nordrhein-Westfalen in Richtung CDU drehte, waren die Älteren seine wichtigsten Verbündeten. Seine Gegner hatten zwei mächtige Faktoren nicht auf dem Zettel: Erstens hat der demografische Wandel dazu geführt, dass nun mal in die höheren Altersgruppen mehr Wähler hineingewandert sind als je zuvor. Hinzu kommt: Die Älteren legen auch eine höhere Wahlbeteiligung an den Tag als die Jüngeren.
<b>3. Der Vorsprung vor der Union schmilzt</b>
Die Union scheint die tiefsten Tiefen ihrer Talwanderung dieses Frühjahrs schon hinter sich zu haben. In kleinen Schritten geht es wieder aufwärts.
Am 6. Mai schlugen bei Infratest dimap die Grünen die Union noch klar mit 26 zu 23 Prozent. Jetzt, nicht ganz 14 Tage später, steht es nur noch 25 zu 24.
Die Forschungsgruppe Wahlen sieht die Union bereits wieder bei 25 Prozent.
Bei Forsa legte die Union seit dem 20. April mit kurioser Stetigkeit jede Woche einen Punkt drauf: Am 28. April waren es 22, am 5. Mai 23 und am 12. Mai 24 Prozent.
Der aktuelle Vorsprung der Grünen vor der Union in den Umfragen ist also nicht nur knapp. Eine Tendenz zur baldigen Umkehr der Kräfteverhältnisse ist bereits messbar.
<b>4. Laschet wird immer wieder unterschätzt</b>
In zahllosen Umfragen wurde in den vergangenen Wochen dargelegt, dass das Publikum lieber Markus Söder als Armin Laschet in der Rolle des Kanzlerkandidaten gesehen hätte. Dies hinterließ bei vielen den Eindruck, Laschet sei ein schwacher Kandidat.
Tatsächlich aber ist Laschet immer wieder unterschätzt worden, auch von den Meinungsforschern. Bei seinem Wahlsieg in NRW am 14. Mai 2017 holte er 33 Prozent der Stimmen und übertraf damit alle im selben Monat veröffentlichten Umfragen.
Zwar elektrisierte er seine Anhänger nicht, doch er löste auch keine Aversionen aus, etwa bei früheren SPD-Wählern. Auch eine Stimme, die man nur seufzend abgibt für einen Kandidaten, den man bei Abwägung aller Umstände für das geringste Übel hält, ist eine Stimme. Helmut Kohl regierte auf diese Art sogar 16 Jahre lang.
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Die Forschungsgruppe Wahlen hat alle Duelle durchspielen lassen – Baerbock blieb dabei hinter Laschet und hinter Scholz zurück.
© Quelle: Forschungsgruppe Wahlen / ZDF
In einer aktuellen – aber öffentlich kaum wahrgenommenen – Persönlichkeitsumfrage steht Laschet zudem verblüffend stark da. „Wen hätten Sie lieber als Bundeskanzler?“, fragte die Forschungsgruppe Wahlen in einer am 7. Mai veröffentlichten Untersuchung. Beim Duell Laschet–Baerbock liegt Laschet mit 46 zu 44 Prozent vorn. Laschet verliert indessen gegen Olaf Scholz, mit 43 zu 46 Prozent.
Baerbock indessen bleibt in dieser Umfrage auch hinter Scholz zurück, mit 43 zu 45 Prozent. Dass sie sich gegen keinen von beiden durchsetzen kann, könnte auch ein Indiz dafür sein, dass der Aspekt der bei Baerbock fehlenden Regierungserfahrung am Ende doch noch etwas mehr ins Gewicht fallen könnte, als die Grünen heute ahnen.
Das demoskopische Gesamtbild ist also kompliziert, vor allem wegen des Scholz-Phänomens: Als Person erscheint den Deutschen tragischerweise ausgerechnet der Vertreter der demoskopisch schwächsten Partei am besten geeignet. Nicht ablesen aber lässt sich aus diesen Zahlen ein Wunsch der Mehrheit der Deutschen, das höchste Regierungsamt dringend an Baerbock zu übergeben.
<b>5. Die Grünen haben ein Problem im Osten</b>
Die nächste Landtagswahl im Superwahljahr 2021 findet im Osten statt, in Sachsen-Anhalt. Dort wäre schon die erstmalige Zweistelligkeit eines Grünen-Wahlergebnisses ein großer historischer Erfolg. Beim letzten Mal kamen die Grünen in Sachsen-Anhalt auf 5,2 Prozent der Stimmen. Für die Wahl am 6. Juni sagen Demoskopen ihnen Werte um die 12 Prozent voraus.
Doch selbst nach einer solchen beachtlichen Steigerung geriete auf Bundesebene eine ernüchternde Tatsache in den Blick: Außerhalb ihrer Hochburgen in westlichen Großstädten und Universitätsstädten sind die Grünen oft verblüffend schwach.
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Unterwegs auf schwierigem Pflaster: Anne Shepley, Spitzenkandidatin der Grünen für die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern, die parallel zur Bundestagswahl stattfindet. Beim letzten Mal sind die Grünen in „Meck-Pomm“ an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert.
© Quelle: dpa
Am 26. September wird parallel zur Bundestagswahl auch in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen gewählt. In der Annäherung an den Wahltag wird man sich auch mit den Stimmungen und Strömungen in diesen beiden Ländern befassen, in denen für die Grünen die Bäume nicht in den Himmel wachsen. In Thüringen kamen die Grünen bei der letzten Landtagswahl im Jahr 2019 knapp über die Fünf-Prozent-Hürde, in Mecklenburg-Vorpommern schafften sie das nicht.
Unter den Ostdeutschen wünschen sich laut Politbarometer 54 Prozent eine unionsgeführte Bundesregierung und nur 29 Prozent eine von den Grünen geführte.
Krause Details wie diese passen nicht aufs Cover schicker Tiefdruckmagazine. Sie spiegeln sich aber wider im Kleingedruckten aktueller Umfragen – auf dem Höhepunkt der Baerbock-Welle.